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Archiv-Artikel

Lebensgefühl einer bestimmten Zeit

betr.: „Ich hätte Hitler etwas Eleganz eingeredet“, Gespräch mit Grimme-Preis-Träger Oliver Axer im taz.mag vom 30. 4./1. 5. 05

Ich wurde 1930 geboren (gehöre also schon zu der Generation, der man neuerdings ständig ihr baldiges Aussterben unter die Nase reibt, was ich nicht gerade erbaulich finde). An einer gegenüberliegenden Brandmauer des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin, befand sich eine überlebensgroße Persil-Reklame: Eine weiß gekleidete Frau mit großem Hut schritt mit schwingendem, knöchellangem Kleid, ein ebenfalls weiß gekleidetes kleines Mädchen an der Hand (das ich hätte sein können) auf den Betrachter zu – das Eleganteste, was ich seither an Persil-Reklamen gesehen habe.

Die Einrichtung der Wohnung meiner Kindheit hatte klare, schöne Formen und Muster, beeinflusst vom Bauhaus, Gardinen und Tapeten waren so ästhetisch, dass ich sie noch heute in Erinnerung habe. Auch ich kenne die Filme, für die Oliver Axer so schwärmt, mit den eleganten Schiffen und Autos, den schönen Kleidern, den mondänen Bars, wie man sie genauso in amerikanischen Filmen sehen kann – in den Dreißigerjahrefilmen der Marx Brothers zum Beispiel. Es war die Ästhetik der Zeit und nicht die des Dritten Reiches, das sich nicht einfach aus der Ästhetik des „Zeitgeistes“, wie man heute sagen würde, auskoppeln konnte.

Das sagt auch etwas über einen allmählichen Sinneswandel aus, das Nebeneinander-Herlaufen „eigentlich unvereinbarer“ Dinge – wie man glaubt. Man wird die Zeit des Nationalsozialismus, ebenso wie aller zurückliegender Epochen, niemals ganz erfassen können, wenn man das nicht berücksichtigt. Das hat gar nichts mit „Repräsentationsästhetiken“ zu tun, sondern mit dem Lebensgefühl der Menschen in einer bestimmten Zeit, das sich nicht verordnen lässt. Es gab immer ein Vorher. Wenn man den Zeitzeugen einigermaßen gerecht werden will, sollte man sie nicht nur von ihren Erlebnissen im Luftschutzkeller oder an der Front berichten lassen. Ich werde den Teufel tun, als Zeitzeugin herzuhalten. Die nachgeborenen Schlaumeier wissen es ja doch besser. SIGRID WIEGAND, Berlin

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