Eisprinzessin Katis olympische Kür

ASSOZIATIVE RECHERCHE Für „Schubladen“ arbeitet sich das im Westen sozialisierte Kollektiv „She She Pop“ am HAU durch Erinnerungen ans geteilte Deutschland. Als Gegenspielerinnen fungieren ostdeutsche Künstlerinnen

VON TOM MUSTROPH

Die West-Performerinnen von She She Pop halten ein strukturiertes Kaffeekränzchen ab. Mit dabei: ihre Gegenspielerinnen aus dem Osten. Sie reden über Kindheit und Jugend im jeweils anderen Land. Ost-West-Aufwachsgeschichten mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall? Das Thema haben die, die es interessierte, doch längst durch!

Offensichtlich gehören die Performerinnen von She She Pop nicht zu diesem Kreis. Dass die Braunschweigerinnen, Hamburgerinnen und Stuttgarterinnen, die seit Jahren in Ostberlin wohnen und dies inzwischen als ihre Heimat begreifen, aber ausgerechnet in einem Jahr, in dem keine Jubiläen zu Mauerbau, Kennedy-Besuch oder 17. Juni anstehen, öffentlich über Ost-Westliches nachdenken wollen, verleiht ihrem Projekt „Schubladen“ den bestechenden Charme des Unzeitgemäßen.

Persönliches Anliegen

Es muss sich also um ein persönliches Anliegen und gerade nicht um ein durch Fördermittel konditioniertes Interesse handeln. Zur Erlangung von Ost-Kompetenz haben die sechs She-She-Pop-Frauen im befreundeten Künstlerinnenmilieu gecastet und u. a. die Schriftstellerin Annett Gröschner, die Fotografin Wenke Seemann und die Sängerin Alexandra Lachmann ausgewählt.

Die drei Ost-West-Duos nehmen auf der großen Bühne des HAU 2 an kargen Tischen Platz. Sie kramen in Kisten und holen daraus Poesiealben, Briefe, Bücher und Schallplatten hervor. Das Stöbern und das Reden darüber gebiert durchaus Erkenntnisse. Alice Millers Standardwerk „Das Drama des begabten Kindes“ etwa wird gegen Literatur zur Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten in Stellung gebracht. Ilia aus Stuttgart fragt Wenke aus Rostock, was es denn bedeutete, „Brigadeleiterin“ in einer Schulklasse zu sein. Wenke hingegen – der Vater arbeitete auf der Warnowwerft in Rostock – will wissen, ob Ilias Eltern Kapitalisten seien. Als Arbeitshypothese zu Kapitalist und Kapitalismus werden Definitionen aus dem Heimatkundebuch Klasse 4 in die Runde geworfen.

Es zeigt sich, nicht alles, was dort notiert war, muss korrigiert werden. Einen schelmischen Höhepunkt erfährt der Abend, als die Hamburgerin Johanna von den Anstrengungen ihrer Großmutter erzählt, Pakete für die Ostverwandtschaft zusammenzustellen – und dies mit der Bilanz der gebürtigen Magdeburgerin Annett über den Inhalt der angekommenen Pakete konfrontiert wird. „Mehr als sechs Pfund Gewicht“ (Hamburg) stehen da gegen „kaum ein Kilo schwer“ (Magdeburg). Auch der Inhalt der Pakete variiert beträchtlich. Von den Gütern, die Johannas Oma auflistet, taucht kaum eines in den Statistiken der Staatssicherheit auf, aus denen Annett später zitiert. Es stellt sich die interessante Frage: Welche Quelle ist die verlässlichste: Die Oma aus Hamburg? Das Mädchen aus Magdeburg? Oder doch die Stasi?

Der Kulminationspunkt des Schubladenspiels ist nach einer guten halben Stunde erreicht. Da berichtet Kapitalistentochter Ilia stolz von einer guten Note in einer Geschichtsarbeit über den Marxismus, ihre Dialogpartnerin aus dem Osten konstatiert nur trocken: „Weißt du, was es heißt, in deiner Geschichtsarbeit aufzuwachsen?“

„Schubladen“ ist aber nicht nur eine Ost-West-Begegnung, sondern auch ein Mädchenabend. Das wird an der Bürostuhlchoreografie deutlich, in der eine Olympiakür der Eiskunstlaufprinzessin Katarina Witt nachgestellt wird. Jungsherzen wären eher beim Fachsimpeln über den kanadischen Eishockeystar Wayne Gretzky oder die legendäre Moskauer KLM-Reihe (Krutow, Larionow, Makarow) aufgegangen.

Auch das Erzählen über die erste Liebe wäre anders erfolgt. Interessanterweise tauchte der 89er Umbruch kaum als Thema auf. Dazu waren die Protagonistinnen – meist in den 70er Jahren geboren – schlicht zu jung. Ilia etwa experimentierte zu dieser Zeit vor allem mit sexuellem Begehren. Lediglich Annett Gröschner (Jahrgang 1964) erzählte von Ausreisen, vom Aufbegehren und von der Enttäuschung, die sich Ende 1990 angesichts der festgezurrten politischen Verhältnisse eingestellt hatte. Ein schöner Endpunkt wäre ihre Erinnerung an die Irritationen beim gesamtdeutschen Feministinnentreffen gewesen.

Die Jahre danach erwiesen sich als ein schlecht konturierter Erfahrungsbrei. Das mag an den Protagonistinnen liegen, an dem Format des durch minimale Regeln strukturierten Gesprächskreises, an den Ereignissen selbst oder auch an der zu geringen zeitlichen Distanz. „Schubladen“ ist aber auch kein simples Ost-West-Aufarbeitungsprojekt, sondern eine assoziative Recherche über die Bedingungsgefüge, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Ein vergnüglicher Abend mit Langzeit- und Tiefenwirkung.

■ HAU 2, bis 11. März