piwik no script img

Archiv-Artikel

Mehr wissen, weniger verstehen

GESCHWINDIGKEIT Die Katastrophe von Fukushima hat bei deutschen Onlinemedien ein Instrument etabliert, dass die Überforderung des Journalisten auf seine Leser überträgt – und die Empathiewerte hochtreibt. Es waren die Tage der Liveticker

Sie zittern mit den Arbeitern im Kraftwerk und fürchten sich im Minutentakt vor der Kernschmelze

Wie soll man sich jenen Leser vorstellen? Jener Leser, der am 23. März 2011 um 21.59 Uhr im Liveticker auf taz.de las: „In Deutschland werden die Geigerzähler knapp, im Elektronikfachhandel sind sie bereits ausverkauft.“ Was tat er? Sagte er seinen Kindern Gute Nacht? Legte er sich dann ins Bett zu seiner Frau? Machte er das Licht aus und sagte: Die Geigerzähler werden knapp?

Was machte jene Leserin, nachdem sie am 14. März 2011 um 15.45 Uhr, einem Montag, im Liveticker gelesen hatte: „Die drei Reaktoren des japanischen Atomkraftwerks Fukushima eins, in denen auch nach Einschätzung der Regierung eine Kernschmelze droht, können nach Experteneinschätzung fast nur noch sich selbst überlassen werden“? Ging sie vor die Tür, kramte sie eine Zigarettenschachtel aus der Manteltasche, sagte sie ihrer Kollegin: Fukushima eins kann übrigens fast nur noch sich selbst überlassen werden? Und was dachte jener Leser, der am 19. März 2011 um 16:35 Uhr las: „Der IAEA zufolge haben die japanischen Behörden Löcher in die Reaktorblöcke 5 und 6 geschnitten, durch die Wasserstoff entweichen kann, um so eine Wasserstoffexplosion zu verhindern.“ Dachte er: Hoffentlich gelingt es?

Die Katastrophe von Fukushima war ein journalistischer Extremfall, eine Überforderung. Sie überforderte jene, die Nachrichten aus Japan weitergaben: die Journalisten. Und jene, die sie konsumierten. Die Katastrophe war zu groß, zu komplex und zu schnell. Bei deutschen Onlinemedien etablierte sich in jenen Tagen ein journalistisches Instrument, das mit der Geschwindigkeit der Katastrophe mithalten wollte – im Zweifel aber die Überforderung des Journalisten auf den Leser übertrug.

Es war die Stunde der Liveticker: Informationen, fast in Echtzeit übermittelt, minutenweise aktualisiert, in Häppchen. Die Katastrophe zum Mitfiebern. 15.29 Uhr: Keine Hoffnung mehr auf Überlebende // 16.07 Uhr: Bundesregierung trifft Vorsorge für Strahlenschutz // 16.32 Uhr: Grüne fordern deutschen Komplettausstieg bis 2017.

Was macht der Liveticker mit Produzent und Konsument? Die Journalisten werden zu Gehetzten, die Leser zu einsamen Fans. Die Journalisten, die einen Liveticker bestücken, konkurrieren mit den Ereignissen um Schnelligkeit, sie rennen der Katastrophe hinterher. Es bleibt kaum Zeit für Auswahl, Einordnung und Gewichtung der einlaufenden Informationen, für das „Gatekeeping“ – einer klassischen Aufgabe des Journalisten. Die Leser, die sich per Liveticker informieren, werden zu Fans der Katastrophe, unter umgekehrten Vorzeichen: Sie zittern mit den Arbeitern im Kraftwerk, sie fürchten sich im Minutentakt vor der Kernschmelze und der radioaktiven Wolke, sie registrieren steigende Todeszahlen, sie verfolgen die Ankunft der Hubschrauber über dem Unglücksreaktor. Sie wissen immer mehr, was passiert.

Und verstehen immer weniger. FELIX DACHSEL