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Archiv-Artikel

Mit brennender Geduld

ÜBERBLICK Die Lage an den Unglückreaktoren von Fukushima Daiichi ist stabil schlecht. Immer noch strahlen die Atomruinen, immer noch ist unklar, was genau passiert ist und was passieren wird. Sicher ist nur: Die Aufräumarbeiten werden Jahrzehnte dauern. Eine Zwischenbilanz

Von Bernhard Pötter (Recherche) und Stefanie Weber (Grafik)

Die Arbeiter

Insgesamt starben durch das Beben fünf Arbeiter, zwei Dutzend wurden verletzt. Bis Dezember 2011 waren knapp 20.000 Arbeiter bei den Aufräumarbeiten auf dem Gelände eingesetzt worden - die Mehrzahl von ihnen, etwa 16.000, von Fremdfirmen angeheuert. Ausrüstung, Verpflegung und Unterbringung haben sich verbessert, trotzdem arbeiten die atomaren Müllmänner unter extremen Bedingungen: Schutzanzug, Gasmaske und Handschuhe hemmen sie ebenso wie die Strahlenbelastung – an manchen Stellen dürfen sie nur wenige Minuten bleiben. In einer Acht-Stunden-Schicht arbeiten sie oft nur effektiv zwei Stunden auf dem Gelände, der Rest geht bei Anfahrt, Umziehen, Dekontaminieren verloren. Die Obergrenze der Strahlenexposition für die gesamte Lebensdauer eines Menschen, die kurz nach dem Unglück auf 250 Millisievert hochgesetzt worden war, liegt wieder bei 100 – ein Indiz dafür, dass die Lage sich verbessert hat. In Deutschland liegt sie für AKW-Personal bei 20 Millisievert. Die berühmten „50 von Fukushima“, die Arbeiter an den ersten Tagen der Katastrophe, wurden offenbar nicht so stark belastet wie anfangs befürchtet. Anders als beim Unglück in Tschernobyl haben die Messungen in Japan bisher nur wenige Strahlenopfer festgestellt: 167 Arbeiter wurden mit mehr als 100 Millisievert belastet. Allerdings ist unklar, ob auch Soldaten und Feuerwehrleute in diesen Daten berücksichtigt sind. Schwer verstrahlt wurden jedenfalls sechs Angestellte, die sich zum Zeitpunkt der Explosion im Leitstand der Anlage befanden. Durch undichte Türen und Gasmasken bekamen sie bis zu 678 Millisievert ab, weil sie offenbar radioaktiven Staub schluckten.

Die Reaktoren

Auch ein Jahr nach dem Beginn der Katastrophe weiß niemand, was genau mit den Reaktorkernen (1) geschehen ist. Sicher ist, dass sie durch den Verlust des Kühlwassers freilagen und durch die enorme Hitze teilweise oder ganz geschmolzen sind. Tepco geht inzwischen davon aus, dass sich zumindest im Reaktor 1 der geschmolzene Kern vollständig oder zu großen Teilen durch den Reaktordruckbehälter (2) nach unten hindurchgeschmolzen hat. Das „Corium“, eine heiße Lavamasse, tropfte auf den Betonboden und hat sich weiter nach unten gefressen (3). Ein Ausbruch des geschmolzenen Kerns aus Druckbehälter und Containment war zu Beginn der Katastrophe als Horrorszenario gehandelt worden, bei dem die gesamte Anlage hätte geräumt werden müssen. Inzwischen ist das Corium so weit abgekühlt, dass diese Gefahr deutlich geringer ist. Allerdings müssen dafür die Reaktoren noch jahrelang gekühlt werden.

Auch für die Blöcke 2 und 3 werden ähnliche Zustände angenommen. Genaueren Aufschluss brachte auch eine Kamera nicht, die Ende 2011 in einen Block eingelassen wurde. Die äußere Strahlung an den Blöcken ist je nach nach Zerstörungsgrad gering bis mittelschwer. An einer Stelle im Außenbereich wurden aber auch schon mehr als eine Million Mikrosievert pro Stunde gemessen - eine lebensgefährdene Dosis. Block 1 ist inzwischen von einer mächtigen Zeltkonstruktion umgeben, um die Strahlung zu halten, später soll das auch bei Block 2 und 3 folgen.

Momentan stabil ist die Lage der abgebrannten Brennelemente (4), die hochgradig radio-aktiv sind und oberhalb der Reaktoren in den Gebäuden in Wasserbecken lagern. Allerdings sind die Becken teilweise mit Trümmern bedeckt oder nicht zugänglich. Vor allem das mit 1.500 Brennstäben gefüllte Becken an Reaktor 4 bereitet Kopfzerbrechen: Es war beschädigt worden und ist provisorisch abgestützt worden. Erst in ein bis zwei Jahren können dort die Brennelemente entladen werden. Ein kräftiges Erdbeben könnte aber die gesamte Konstruktion gefährden - und frei herumliegende hochradiokative Brennstäbe würden die Aufräumarbeiten zum Erliegen bringen. Wie und wann die Brennstäbe entladen werden sollen, ist völlig unklar.

Der Wasserkreislauf

Dass die überhitzten Reaktoren als letzte verzweifelte Maßnahme mit Meerwasser geflutet wurden, hat sie gekühlt und die ganz große Katastrophe verhindert. Doch gleichzeitig sorgte die Sintflut im Reaktor für eine neue Gefahr. Das Löschwasser wurde durch Kontakt mit dem atomaren Kern und mit verseuchten Stellen auf dem Gelände kontaminiert. Das Wasser lief in die Keller und unkontrolliert ins Meer. Inzwischen gibt es eine Art Kreislauf: Kühlwasser wird in den Reaktor eingespeist (5), läuft durch Risse und Spalten in die Kellergeschosse von Reaktor- und Turbinengebäude. Von dort wird es zur Dekontaminierungsanlage (6) gepumpt, wo es über chemische Prozesse und Filter teilweise von radioaktiven Teilchen befreit wird, ehe es wieder in die Reaktoren eingespeist wird. Überschüssiges Wasser wird in hunderten von riesigen Tanks auf dem Gelände gelagert. Insgesamt befinden sich etwa 80.000 Kubikmeter Wasser in den Kellern, zu denen sich auch Grundwasser mischt. Ob das verseuchte Wasser auch ins Grundwasser gelangt, ist ungewiss. Insgesamt sind bisher 230.000 Kubikmeter Löschwasser ins atomare Feuer gekippt worden.

Der Schrott und das Meer

Immer noch setzen die drei havarierten Reaktoren radioaktive Strahlung frei – allerdings deutlich weniger als zu Beginn. Gemessen wird kein Jod mehr, weil dessen Halbwertszeit kurz ist, sondern vor allem Cäsium. Bisher hat das Unglück etwa 10 bis 20 Prozent der Strahlung verursacht, die beim GAU in Tschernobyl frei wurde. Betroffen sind insgesamt 340.000 Personen – bei Tschernobyl waren es 75 Millionen.

Die Explosionen haben verseuchte Trümmer über das ganze Gelände verteilt. Sie behindern die Arbeit, weil sie im Weg liegen und teilweise stark strahlen. Mit Baggern und Robotern sind diese Teile auf Haufen geschoben worden, um Wege frei zumachen. Diese strahlenden Schrotthaufen werden mit einer Art von Harz besprüht, damit Wind und Regen die radioaktiven Teilchen nicht aufwirbeln oder wegspülen. Insgesamt stellt der Abfallberg ein ungelöstes Problem dar: Allein auf dem Gelände wurden bereits etwa 30.000 Kubikmeter Strahlentrümmer eingesammelt. Dazu kommen hunderttausende Kubikmeter von verstrahlter Erde aus der Evakuierungszone, verseuchte Klärschlämme, Asche aus der Müllverbrennung ebenso wie die Schlämme und Wasser aus den Reaktoren. Sie alle werden wahrscheinlich irgendwann auf dem Gelände des ehemaligen Kraftwerks landen: Denn die Zukunft von Fukushima Daiichi wird es sein, als Abfallbehandlungsanlage und Endlager für die Abfälle der Katastrophe zu dienen.

Die größte Belastung der Umwelt durch die Katastrophe von Fukushima ist kaum zu messen: Denn als die Reaktorhäuser explodierten, wehte der Wind die meisten radioaktiven Partikel Richtung Osten auf den Pazifik hinaus. Konkret messbar wurde die Belastung des Meeres erst mit dem Überlaufen des verseuchten Löschwassers und der kurzfristigen Einleitung von strahlendem Wasser in die Bucht von Fukushima. Dort wurden im April 2011 extrem hohe Werte gemessen. Heute finden sich noch Belastungen bis 30 Kilometer vor der japanischen Küste, doch die Werte sind drastisch gesunken. Nur unmittelbar vor dem Kraftwerk sind die Strahlenwerte im Meer noch hoch. Deshalb geht Tepco jetzt dazu über, den Meeresgrund mit einer 60 Zentimeter dicken Schicht aus Beton auszugießen. Die Fischer der Küste haben beschlossen, auch in dieser Saison nichts zu fangen. Eine Rückkehr der etwa 100.000 Evakuierten aus der Zone 20 Kilometer rund um das AKW-Gelände steht nicht in Aussicht. Bei Tee, Pilzen, Reis, Rindfleisch und Trockenmilch wurden Belastungen gemessen, der Handel mit ihnen wurde eingeschränkt. Die Regierung hat begonnen, Schulkinder und schwangere Frauen regelmäßig und langfristig auf ihren Gesundheitszustand zu untersuchen, Schulkinder bekommen eigene Strahlenmessgeräte. Studien zeigen, dass die Radioaktivität in den Flüssen mit der Fließrichtung des Gewässers wandert.