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Archiv-Artikel

Clownfisch mit Propeller

Cannes Cannes (2): Catherine Deneuve verirrt sich im Burger King, Brittany Murphy und Bill Murray posieren am Strand, und Dominik Moll eröffnet das Festival mit „Lemming“

Am Vorabend des Festivals ruft mich das Bonner Büro der Deutschen Welle an. Für einen Radiobeitrag über Cannes, der in den USA ausgestrahlt werden soll, wird ein Filmkritiker gesucht; er soll auf Englisch etwas über das bevorstehende Festival sagen. Die erste Frage lautet sinngemäß: Sind Sie gespannt auf „Star Wars“? Die zweite: Hat Wim Wenders Chancen auf die Goldene Palme? Die dritte: Legt Cannes es darauf an, sich mit den US Majors zu streiten? Und: Welche Stars haben Sie schon gesehen?

Zahllose. Catherine Deneuve saß im selben Flugzeug wie ich, genau eine Reihe vor mir. Nachdem sie die Sicherheitskontrollen am Flughafen Berlin-Schönefeld passiert hatte, verirrte sie sich und landete in einem Burger-King-Restaurant, das tatsächlich auch eine Abfertigungshalle hätte sein können. Offiziell noch nicht eingetroffen ist Brittany Murphy, die dem Popredakteur dieser Zeitung so den Kopf verdreht hat, dass er eine ganze Konferenz damit bestritt, „Brittany“ zu rufen.

Ich sah sie trotzdem, an dem schmalen Stück Strand, das öffentlich zugänglich ist. Sie versteckte ihre großen Augen hinter großen Sonnenbrillen und tunkte ihre Füße ins Wasser; nicht weit von ihr stand Bill Murray, nur mit einem Bademantel bekleidet, derweil ihn Fotografen der deutschen Zeitschrift Monopol ablichteten. Der dazubestellte Übersetzer verwandelte die knappen Sätze der deutschen Fotografen in englische Wendungen, die sich dem Stil Henry James’ verpflichteten.

Später am Nachmittag fand ich in meinem Pressefach eine Einladung von Wim Wenders ins Hotel Martinez. Dort hat er im Zimmer 666, wie schon einmal vor 23 Jahren, eine 16-mm-Kamera und ein Mikro aufgebaut, damit Filmemacher erzählen, was sie vom Zustand des zeitgenössischen Kinos halten und wie sie dessen Zukunft sehen. Leider hatte ich da schon eine Verabredung mit dem Kollegen W.; wir gingen ins kambodschanische Schnellrestaurant. So konnte ich der Deutschen Welle nichts über Wim Wenders’ Chancen bei diesem Festival sagen.

Berichten kann ich aber etwas über den Eröffnungsfilm: In „Lemming“ verwirbelt der französische Regisseur Dominik Moll Realität und Imagination. Alain (Laurent Lucas) arbeitet an der Entwicklung einer mobilen Überwachungskamera, einer fliegenden Webcam, und führt sonst ein wohl geordnetes Leben mit Frau (Charlotte Gainsbourg) und Einfamilienhaus. Doch es braucht nicht mehr als einen halb toten Lemming im Abflussrohr der Küche, und schon kann Alain nicht mehr seine eigene von der Frau seines Chefs (Charlotte Rampling) unterscheiden. Mit ihm gerät auch der Zuschauer in Schwierigkeiten. Als Alain einen Autounfall hat, ist er überzeugt, von zahllosen Lemmingen übermannt worden zu sein; der Zuschauer hat diesen Überfall mit eigenen Augen gesehen.

Moll folgt mit seinem Film vielleicht eine Spur zu deutlich einer freudianischen Versuchsanordnung, in der Realitätsverlust, ödipale Konflikte sowie Macht und Ohnmacht des Schaulustigen zusammenfließen. Doch das will nicht allzu schwer wiegen, da das ödipale Drama einen feinen Sinn entwickelt für die Absurdität des Alltäglichen.

So vermittelt Molls Film überzeugend drei Dinge: „Romantischer Unsinn“ ist, dass Lemminge sich in suizidaler Absicht ins Wasser stürzen – „sie ertrinken aus Erschöpfung“. Charlotte Ramplings Augenlider hängen unnachahmlich erregend über ihren Augäpfeln. Und die fliegende Webcam sollte unter dem Begriff „Hubschrauberauge“ in die Theoriebildung eingehen, selbst wenn sie ein wenig wie ein Clownfisch mit Propeller aussieht. CRISTINA NORD