Bye-bye, Zombie Nation!

Was kommt nach Rot-Grün? (5): Deutschland wird wieder jung. Schluss mit der Politik, mit den Medien, mit dem Konsumismus. Dafür setzt sich eine neue Jugend durch, mit ihrem Humanismus

VON JOACHIM LOTTMANN

Zuerst dachte ich, wie die meisten: nach Rot-Grün kommt die Merkel. Aber das geht ja gar nicht, weil gerade keine Wahlen sind und der Schröder nicht einfach gaga wird und zurücktritt. Nein, es geht anders:

Die kleine Landtagswahl in NRW ist ja nur eine von vielen Landtagswahlen in der Legislaturperiode. Die SPD verliert zwar mit zehn Prozent Unterschied, aber egal. Noch nicht einmal die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat entsteht, weil ja die andere kleine Landtagswahl, die in Schleswig-Holstein, nur in den Medien verloren wurde, nicht in den Wahllokalen. Nicht Harry Carstensen wurde vom Wähler mit der Mehrheit ausgestattet, sondern Heidi Simonis. Das weiß zwar heute keiner mehr, weil ein Abgeordneter einfach von den Rechten gekauft wurde, aber im Bundesrat bleibt es dabei: keine Stimme gegen Rot-Grün.

Also macht der Kanzler einfach weiter. Aber wenn er am 23. Mai die geliebten Zeitungen aufschlägt, sieht er eine Tsanumi-Medienwelle turmhoch auf sein Kanzleramt zurasen. Die Bild-Zeitung titelt mit zwölf Zentimeter hohen Buchstaben: „E S R E I C H T !“ Unterzeile: „Gerd, pack deine Sachen!“ Auf den Seiten zwei und drei Vorschläge (mit Fotos) an Doris Schröder-Köpf, wo man hinziehen und die Rente ausgeben könnte. Mallorca, Malediven, Cayman Islands, Lanzarote, Grönland, der Mond. Alle anderen Zeitungen bringen seitenlange Hassartikel gegen Rot-Grün, die sie seit Monaten bis ins kleinste Detail vorbereitet hatten. In Millionen Talkshows, Straßenbefragungen, ARD-Brennpunkten etc. wird rund um die Uhr die Frage diskutiert: „Schröder am Ende – was nun?“

Die Republik hat sich definitiv auf einen Machtwechsel festgelegt, und so reiben sich die Regierenden die Augen und beugen sich dem bösen Spuk. Was sie jetzt tun sollen, wird ihnen in tausend Gazetten vorgebetet: sie sollen jetzt einig sein, an Deutschland denken, keine Parteien mehr kennen, endlich an einem Strang ziehen, ein „Ruck“ soll durch sie gehen, statt weiter zu reden, sollen sie die große Koalition machen. Mit einem Wort: Ein Ende des politischen Diskurses wird verlangt.

„Nichts leichter als das!“, rufen viele Mandatsträger erleichtert aus. Und alle, alle machen mit. Keiner will abseits stehen, keiner sich der großen Aufgabe entziehen. Innerlich raufen sich die CDU-ler die Haare, denn die nächste Bundestagswahl hätten sie haushoch gewonnen. Doch nun also das große völkische Bündnis. Aus Politikern werden Manager. Es wird nicht mehr geredet, nur gehandelt. Alle sind begeistert. Die Zustimmung in der Bevölkerung erreicht 90 Prozent. Auch Grüne und FDP, obwohl nicht an der Macht beteiligt, halten jetzt lieber den Mund. Programme werden aufgelegt, Steuern gekürzt, Gesetze erlassen, Zinsen gesenkt, Bauvorhaben begonnen, Projekte beschlossen, Verbände eingeschworen, Staatsgäste und Wirtschaftsdelegationen empfangen. Bild (mit schwarz-rot-gelbem Rand): „H U R R A !“ Unterzeile: „Es geht doch, Deutschland!“

Doch dann kommt die größte Enttäuschung seit dem verlorenen Weltkrieg für unser Volk. Es geht nämlich überhaupt nichts. Die Wirtschaftsdaten ändern sich um kein Zehntel Prozent. Das Nullwachstum der letzten 15 Jahre setzt sich ohne die allergeringste Schwankung einfach fort. Die Arbeitslosenzahl erreicht im Winter 2005/06 5,6 Millionen, für den darauf folgenden Winter erwarten die Institute die magische Hitler-Marke von 6 Millionen. Die Wirtschaft kackt ab, das merkt nun jeder Idiot. Die Experten wissen: Es liegt an den dreistelligen Milliardentransfers, die jährlich vom produktiven Kern im Westen des Landes in den unproduktiven Osten fließen. Ein Standortnachteil für unsere Wirtschaft von so gigantischem Ausmaß, dass kein Konzept der Welt unsere Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen könnte. Und schon gar kein „Ruck“, kein dümmlicher Idealismus, keine Politikerschelte oder sonst welche Psychologie. Solange das so ist, kann es nur bergab gehen. Zur Bundestagswahl gehen viele gar nicht mehr hin. Es ist gelaufen. Und genau hier, an diesem Tiefpunkt der Nachkriegsgeschichte, dem hoffnungslosesten Punkt seit Stalingrad, entsteht das Neue und Gute: Die Abkehr der Menschen von der Politik hat auch etwas Erfrischendes. Sie ist zugleich eine Abkehr von den Medien und vom System des Konsumismus.

Das Wort „Arbeitslosigkeit“, das fast 40 Jahre lang die Gehirne selbst der Besten verklebt hatte, interessiert endlich keinen mehr. Man will weder seinen Platz am Fließband von Opel behalten noch die hässlichen Blödelsendungen von Stefan Raab. Die Proleten entdecken, dass sie mehr sein könnten als Kanonenfutter für nachmittägliche „Hilfe, mein Busen ist zu groß und mein Ex penetriert eine andere“-Talkshows. Was Bärbel Schäfer am Mittag, war Michel Friedman am Abend: Dreck. Junk für Leute, die das sinnentleerte Leben des müde gewordenen Kapitalismus noch immer nicht abstreifen konnten. Das wird jetzt anders. Das gilt für beide Klassen, die Arbeitsplatzinhaber wie für die Arbeitsplatzlosen.

Auch Letztere, vorher objektiv ein Millionenheer von Schmarotzern, die ihre Legitimation aus der Politikerschelte bezogen („Diese Politikerschweine, denen stecken sie die Millionen vorne und hinten rein, und wir müssen mit lächerlichen dreitausend Euro Sozialhilfe im Monat auskommen!“), werden durch das plötzliche Erkennen der Wahrheit regelrecht befreit. Wenn die Politiker nicht verantwortlich sind, nicht die Scheiß-Gewerkschaften, nicht einmal die armen senilen Unternehmerverbände – dann sind sie selbst verantwortlich, sie, die Faulpelze! Und schon fangen sie an, etwas zu tun. Verweise auf die Geschichte zeigen, dass Wirtschaftskraft und kulturelle Blüte auch früher schon getrennte Wege gingen. Die griechische Kultur wurde erst dann zur Weltmacht, als römische Schiffe die Waren beförderten. Wozu eigentlich der Neid auf chinesische Jugendliche, die für zwei Cent pro Stunde unsere Haushaltsgeräte zusammenschrauben, bei einem Nachmittag Freizeit pro Monat? An denen sie Ping-Pong spielen müssen, nach Geschlechtern getrennt?

Die Menschen hier entdecken nicht nur die Idiotie der Arbeitswelt, sondern auch das Glück der echten Kommunikation, der Mitmenschlichkeit – und zwar auch durch die neuen Migrantenwellen, die aus den immer neuen EU-Beitrittsländern kommen. Jede neue Welle wird freudig begrüßt. Hat man erst mal einen kennen gelernt, vielleicht einen Bulgaren aus Bukarest oder eine Deutschrumänin aus Hermannstadt, und hat das Feuer, die Neugierde, die Lebenslust dieser Pioniere erlebt, will man sich gerne weiter anstecken lassen. Gleichzeitig ziehen die Alten weiter, die Rentner und Nörgler, die fetten reichen Senioren, die schon zu Lebzeiten unseren Kuchen aufgegessen haben und nun auch noch unser Erbe außer Landes tragen, nach (siehe oben) Lanzarote, Mallorca, Kanada und so weiter. Sollen sie doch! Bloß weg mit ihnen! Deutschland wird wieder jung. Frank Schirrmacher muss sein „Methusalem-Komplott“ umschreiben.

Nach Rot-Grün kommt nicht die zombie nation, die hatten wir nämlich gerade, sondern ein neuer, maßgeblich von jungen Menschen getragener Humanismus, auch Spiritualismus, eine historisch bemerkenswerte Völkerverständigung. Die zu beschreiben, würde diesen Essay sprengen. Ich verweise auf mein Buch „Die Jugend von heute“.

Joachim Lottmann, gefühlte 43, Popliterat, arbeitet zurzeit an der Romandoku „zombie nation“.