: Bürger statt Blair
Bei den britischen Wahlen hat Labour zwar erneut die Mehrheit gewonnen, aber die politische Deutungshoheit verloren. Zeit für eine Agenda der Post-Krisen-Gesellschaft
In jeder britischen Wahlnacht gibt es ein paar Schlüsselereignisse, an die man sich noch Jahre später erinnert. So auch am 5. Mai 2005, oder besser in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages: Gegen Anfang verlor Labour den Südwestlondoner Wahlkreis Putney an die Konservativen, gegen Schluss den Ostlondoner Wahlkreis Bethnal Green & Bow an die linkssozialistische Partei Respect.
Beide Ergebnisse kamen unerwartet, beide stellten den größten Triumph des Abends für den jeweiligen Sieger dar, und beide offenbarten die Zwickmühle von Tony Blairs Partei. Denn das kleinbürgerliche, lauschige Putney am Südufer der Themse könnte kaum verschiedener sein von Bethnal Green um die berühmte Brick Lane und die brodelnden Einwandererviertel des East End. Und Putneys bescheiden auftretende, junge konservative Wahlsiegerin Justine Greening ist das genaue Gegenteil von Bethnal Greens machistischem Triumphator George Galloway, ein rhetorisch brillanter Politprofi und mit allen Wassern der politischen Intrige gewaschener Labour-Dissident.
Diese beiden Wahlkreise zeigen, wie die Ära von New Labour in ganz Großbritannien zu Ende geht: nicht mit einer eindeutigen Wende, sondern in einer Serie von kleinen Überraschungen, ein Bröckeln auf der Rechten wie der Linken, dank lebendiger Meinungsvielfalt und lokalem politischem Engagement.
Die Mehrheit im britischen Unterhaus hat Labour zwar wieder einmal gewonnen, die politische Deutungshoheit aber verloren. Von „Hegemonie“ im Sinne Antonio Gramscis, also dem Besetzen der Köpfe und der politischen Kultur lange vor der Eroberung der politischen Macht, sprachen die reformistischen Linken der 80er-Jahre. In diesem Sinne führten sie die britischen Kommunisten durch massive Säuberungen in die Sozialdemokratie und verwandelten die Labour-Party mit brutalen Mitteln in die Machteroberungsmaschine New Labour. Nun erfahren sie, wie der Prozess umgekehrt verläuft: Das Gefühl, an der Macht zu sein, beginnt plötzlich zu schwinden, obwohl die Partei noch immer eine satte Parlamentsmehrheit kommandiert.
Tony Blairs Tage sind gezählt. Schon vor dieser Wahl hatte er versprochen, bei der nächsten nicht mehr anzutreten, und nach seinem knappen Sieg steigt der Druck auf ihn, möglichst rasch abzutreten. Damit soll er der Partei erleichtern, mit einem neuen Führer und einem neuen Programm auch die nächste Parlamentswahl zu gewinnen. So geht unter den Blair-Loyalisten Karriereangst um. „Die Arschkriecher haben angefangen, einen neuen Arsch zu suchen“, ließ sich eine Parteigröße nach der Wahl diesbezüglich zitieren.
Schon der Thatcherismus der 80er-Jahre endete tragisch: Er verschwand aus der Politik, als er sich durchgesetzt hatte. Thatchers Wirtschaftspolitik – Privatisierung, Sozialabbau, Deregulierung – war die Grundlage für den ökonomischen Wiederaufstieg Großbritanniens. Seine Urheber waren verhasst, seine Erfolge unstrittig. Als Labour diese Erfolge anerkannte, konnte die Partei glaubhaft die Ausführung der Politik kritisieren, eine bessere Regierungsmannschaft anbieten und Wahlen gewinnen. Der Blairismus der Gegenwart erleidet nun dasselbe Schicksal. Die Erfolge sind unstrittig, deren Urheber zunehmend unbeliebt.
Blairs Politik fügte der neoliberalen Wirtschaftspolitik den Anspruch der sozialen Inklusion hinzu, in dem das untere Drittel der Gesellschaft nicht mehr sich selbst überlassen bleibt, sondern aktiv mit staatlichen Besserungsmaßnahmen überzogen wird – von mehr Sozialleistungen bis zu höheren Anforderungen an das persönliche Verhalten auf dem Arbeitsmarkt, in der Schule, sogar im privaten Alltag. Heute bestreitet keine politische Kraft mehr ernsthaft diesen Anspruch. Aber die Ausführung steht immer mehr in der Kritik.
Bahnt sich also die Rückkehr der Konservativen an die Macht an, spiegelbildlich zu der Labours vor acht Jahren? Zum ersten Mal seit 1992 sind die Tories in England diesmal wieder die stärkste Partei geworden, mit 35,7 Prozent gegen 35,4 Prozent für Labour. Ihre Bastionen sind der Süden und der Osten Englands, und die größten Zuwächse gab es in London – lauter Landesteile, die heute zumeist einen nie gekannten Wohlstand und Lebensstandard genießen. Fast ganz Europa haben sie in dieser Hinsicht weit hinter sich gelassen. Der Thatcherismus reparierte hier die Wirtschaft, der Blairismus die Gesellschaft. Aber es herrscht Unzufriedenheit mit dem Staat – nicht Krisenangst, sondern Ärger über Ineffizienz.
Die Bürger dieser Gegenden sind anspruchsvolle Staatsnutzer geworden, die ihrer Regierung nur noch wenig verzeihen. Sie verstehen nicht, warum die Verkehrsinfrastruktur immer noch miserabel ist, das staatliche Bildungs- und Gesundheitswesen eine Dauerbaustelle bleiben muss und Stadt- wie Raumplanung chaotisch und undurchsichtig verlaufen. Schließlich mussten sie selbst in den vergangenen Jahrzehnten lernen, sich auf sich selbst zu verlassen und die eigenen Geschäfte korrekt zu führen.
Der neue Protest gegen Labour ist ein Wohlstandsprotest. Getragen wird er von Leuten, die gut funktionieren und von Staat und Verwaltung dasselbe erwarten. Zudem verinnerlichen sie das, was Thatcherismus und Blairismus gemeinsam haben: das Ende der Demut gegenüber Establishment und Autoritäten. Deswegen geht es jetzt eben nicht um einen neuen konservativen Durchmarsch. Die Rechten sind weiter in der ideologischen Defensive, obwohl die Linke geschwächt ist. Ein konservativer Wahlsieger nach dem anderen betonte in der Wahlnacht als Grund für den Erfolg die lokale Unzufriedenheit mit der lokalen Entwicklung, also die Folgen ungebremsten und schlecht verdauten Wirtschaftswachstums in den Kommunen. Es ist der Wunsch reicher und mündiger Bürger, Gestaltungsmacht von der Zentralregierung auf die lokale Ebene zurückzuverlagern.
Weder Thatcher noch Blair waren Freunde kommunaler Selbstverwaltung; sie hängen beide am Zentralstaat. Aber die Briten mögen das nicht. Sie wollen überschaubare Welten. Nun ist dieser Punkt nicht einer, mit dem die Konservativen punkten können, sondern er gehört historisch eher den Liberalen. Aber er bildete die Grundlage für Labour-Stimmenverluste in alle Richtungen – eben nicht nur an die Rechten in Südengland, sondern an die Liberalen in Nordenglands Industriestädten, an Respect in Ostlondon, hier und da sogar an die Grünen.
Die Konturen einer neuen politischen Kultur, die hier sichtbar werden, sind parteipolitisch noch nicht fassbar. Zunächst geht es um die Definition einer neuen Agenda des politischen Streits – einer, in der es um das Wesen und die Grenzen des Staates an sich geht und um die Verortung politischer Macht in einer mündigen Gesellschaft. Es ist eine Agenda für eine Post-Krisen-Gesellschaft – aus deutscher Sicht ein seltenes, aber umso lehrreicheres Schauspiel. Wieder einmal dürfte Großbritanniens Politik für Europa in den nächsten Jahren Vorreiter spielen.
DOMINIC JOHNSON