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Archiv-Artikel

Eine riesige Narbe am Hals

KINDHEITSERINNERUNGEN Der US-amerikanische Zeichner und Autor David Small stellte „Stiche“ vor, eine autobiografische Graphic Novel. Darin verhandelt er auf bewegende Weise, wie er als Kind Zuwendung nur über medizinische Behandlung erfuhr

Wohl noch nie hatten wir nach dem Lesen eines Buchs den einen innigen Wunsch: den Autor ganz fest in die Arme zu schließen und nie wieder loszulassen. Nicht, dass die Hoffnung auf Linderung seiner erlittenen Misshandlungen bestünde, aber die autobiografische Graphic Novel „Stiche“ des US-amerikanischen Illustrators und Autors David Small erzeugt eine bodenlose Traurigkeit, die nach irgendeiner Form von Trost schreit. In bisweilen skizzenhaft anmutenden schwarzgrauen Bildern erzählt Small dort von den Zumutungen seiner Kindheit und Jugend in den 50er und 60er Jahren in Detroit. Das Kind einer emotional versteinerten und abweisenden Mutter und eines meist abwesenden Radiologen-Vaters erfährt Zuwendung ausschließlich durch medizinische Behandlung. Mit Medikamenten, Spritzen, Einläufen und vor allem mit hoch dosierter Röntgenbestrahlung werden Atemprobleme und andere mutmaßlich psychosomatische Störungen kuriert.

Als das vernachlässigte Kind 14 Jahre alt ist, wird ihm eine seit Jahren wachsende, angeblich harmlose Hautwucherung aus dem Hals operiert. Als David aus der Narkose aufwacht hat er eine riesige Narbe am Hals, es fehlen ihm die Schilddrüse und die Hälfte seiner Stimmbänder – die Sprachlosigkeit seiner Familie hat sich bei ihm auf absurde Weise körperlich manifestiert, für die nächsten zehn Lebensjahre bleibt er stumm. Wie er später herausfindet, war es Krebs, seine Eltern haben wohl nicht geglaubt, dass er überleben würde.

Am Dienstagabend war David Small in Berlin, um „Stiche“ vorzustellen, und natürlich ist aus dem verwundeten Kind längst ein älterer Mann geworden. Aber wie er da mit leicht heiserer und nicht sehr kräftiger Stimme über den Entstehungsprozess des schmerzhaften Erinnerungsbuches erzählt, scheinen die Verletzungen trotz des mild-ironischen Untertons spürbar. Umso dankbarer berichtet der Illustrator, Kinderbuchautor und Comic-Novize von der lebensrettenden Malerei.

Es ist eine bleischwere Stille, die über den Panels liegt, entsprechend gibt es seitenweise keinen Text und keine Dialoge. Die albtraumhafte Realität und die düsteren Träume des verlorenen Kindes mischen sich zu einer beklemmenden Lebenswirklichkeit. Immer wieder wird der Blick sogartig in Abgründe gestürzt, in Nahaufnahmen reisen wir so durch „Alice im Wunderland“-geprägte Räume oder in seinen geschundenen Schlund. Geradezu unheimlich sind etwa die Bilder eines fortgeschrittenen Fötus, der den Sechsjährigen verfolgt, nachdem der in der Pathologie in Spiritus eingelegte Embryonen und Feten gesehen hat.

Vor allem aber gelingt es Small vortrefflich, die passiven Aggressionen seiner Mutter, die ganze von gescheiterter Liebe und Nähe geprägte Körperlichkeit seiner bisweilen blicklosen, geisterhaften Figuren zu skizzieren. Es ist dann fast unglaublich zu hören, dass David Small in einem immer noch andauernden Prozess gelernt hat zu lieben, wie er mit einem langen Blick auf seine anwesende Ehefrau Sarah sagt, dass es ihm letztlich gelungen ist, die Familientradition der Misshandlungen zu durchbrechen. Und ganz am Ende haben wir unsere hilflose Berührtheit dann auch noch wegumarmt.

KATJA LÜTHGE

■ David Small: „Stiche. Erinnerungen“. Carlsen Verlag, Hamburg 2012, 324 Seiten, 29,90 Euro