Einen sechsten Sinn entwickeln

Denkgewohnheiten von Führungskräften sind ungeeignet, um aktuelle Aufgaben zu lösen, sagt Otto Scharmer

Lernen als Reflexion der Vergangenheit ist überholt. Es bietet Führungskräften keine relevanten Erfahrungen mehr, um heutige Herausforderungen zu bewältigen. Das glaubt jedenfalls Otto Scharmer, Professor an der Sloan School of Management am Massachusetts Institute of Technology in Boston.

Seine Lösung: „Presencing“. Darunter versteht er „das Bemühen, aus der Zukunft zu operieren“, um so das Denken „aus dem Gefängnis der Vergangenheit“ zu befreien. Es geht ihm dabei nicht um Antizipieren der Zukunft, sondern um eine Veränderung der inneren Haltung, die unternehmerisches Handeln auslöst.

Erstmals sei ihm ein Licht aufgegangen, berichtet der Professor, als er den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Hanover Insurance Company Billy O’Brien den Satz sagen hörte: „Der Erfolg einer Intervention hängt von dem inneren Ort ab, aus dem heraus der Intervenierende handelt.“ Es kommt also nicht darauf an, folgerte Scharmer, welche Entscheidungen Verantwortliche in Unternehmen treffen, sondern wie sie diese treffen, welcher Impuls sie in ihnen auslöst.

Dieser sei allerdings auf den ersten Blick nicht sichtbar, räumt Scharmer ein. Ähnlich wie in der Landwirtschaft bestimmten hier letztlich die Qualität des Bodens und Elemente unter der Erde die Qualität der Ernte. Ein Feld, auf dem Scharmer sich auskennt – sein Vater war einer der Pioniere der biologisch-dynamischen Landwirtschaft.

Scharmer hält eine Veränderung grundlegender seelischer Gewohnheiten für nötig: vom urteilenden zum erkundenden Denken, vom emotionalen Reagieren zum erspürenden Fühlen und vom egozentrierten zum intuitiven Erleben im Willen.

Bei diesem Prozess sei eine innere Arbeit zu leisten, die laut Scharmer in drei Hauptphasen verläuft: „Sensing“ soll für das unmittelbare Umfeld sensibilisieren, „Presencing“ zielt auf die eigene Persönlichkeit, und „Actualizing“ bezieht sich auf das unmittelbare Handeln, das dann Neues in die Welt bringen soll.

Zunächst gilt es für eine Führungskraft, sich zu öffnen, gegenüber dem: was war, ist und sein wird. Beispielsweise fordert Scharmer Teilnehmer seiner Seminare dazu auf, ihren größten privaten oder beruflichen Erfolg zu erzählen. So sollen sie lernen, mehr in sich hineinhören, um intuitive und kreative Potenziale zu mobilisieren. Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sollen dadurch eine neue Qualität bekommen. Scharmer will beibringen, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und nicht gewohnheitsmäßig und vorschnell zu urteilen. Führungskräfte sollen überkommene Muster und Identitäten loslassen und so Zugang zu ihrem Selbst finden. Denn das Selbst ist Scharmer zufolge das eigentliche Instrumentarium für die Fähigkeit, die Zukunft in die Gegenwart zu holen.

Beim Einüben seiner Techniken erlangten Menschen neue Fähigkeiten, um Dinge wahrzunehmen, sie zu reflektieren und darüber zu kommunizieren, erklärt Scharmer. Um sich auf „Presencing“ einzulassen, sei freilich eine gehörige Portion Spiritualität nötig. STÉPHANIE STEPHAN

Buchtipp: Otto Scharmer: „Presence: Human Purpose and the Field of the Future“, 288 Seiten, 40 $, Bezug über webmaster@solonline.org oder scharmer@MIT.EDU