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Archiv-Artikel

Kein einfaches Glücksrezept

INTIMITÄT Mehr Single als Familie – Arnon Grünberg porträtiert in „Mit Haut und Haaren“ das Berufs- und Liebesleben akademischer Mittelständler. Abgeklärt und unterhaltsam, doch auch sehr katastrophisch

Erfolgreich und seeehr reflektiert. Doch irgendwas fehlt immer: der Papa, die Mama; die Liebe, die Erektion

VON ANDREAS FANIZADEH

„Natürlich wollte sie über etwas ganz anderes reden. Sie wollte ihm sagen: Wie der Henker nach Mord, so sehne ich mich nach Sex. Sex ist Intimität. Und danach sehne ich mich. Liegt es an dem jahrhundertelangen Einfluss der Kirchen auf unsere Kultur, dass man nicht mal religiös erzogen zu sein braucht, um mit der Idee aufzuwachsen, dass Sex keine Rettung sein kann? Neugierig war sie gewesen, was er dazu gesagt hätte. Wo er angefangen hätte, bei der Religion, der Indoktrination oder beim Sex.“ Lea Ranzenhofer hat einen (erfolgreichen Politiker-)Mann, zwei Kinder und eine akademische Karriere. Doch ihrem Privatleben fehlt es in Brooklyn, New York, an Intensität.

Sie trifft sich deswegen mit Roland Oberstein. Ausgerechnet mit Roland Oberstein, jenem geschiedenen Akademiker aus den Niederlanden, der – „kalt wie ein Fisch“ – Frau, Geliebte und kleinen Sohn zurückgelassen hat, um sich ganz seiner wissenschaftlichen Karriere an der Universität Fairfax, USA, widmen zu dürfen. Und was macht dieser Oberstein, während Lea ihren Gedanken nach den ungestillten Bedürfnissen im Zusammenhang seiner stattlichen Erscheinung nachgeht?

„Er holt ein Buch unter dem Tisch hervor, schmucklos verpackt in braunes Papier. ‚Hier‘, sagt er. ,Das Buch, das ich dir versprochen hatte.‘ Sie reißt das Packpapier auf. Economic Origins of Dictatorship and Genocide liest sie. ‚Danke, sehr aufmerksam.‘ Sie verstaut den Band in ihrer Tasche. ‚Drei Beiträge stammen von mir, und die Idee zu dem Buch eigentlich auch.‘ “

Privat: der ewige Student

In dieser kleinen Szene steckt viel von dem, worum es Arnon Grünberg in seinem Roman „Mit Haut und Haaren“ geht. Grünberg versammelt Paare, die einen akademisch-mittelständischen Hintergrund haben, zwischen Europa und den USA in ihren Beziehungsleben miteinander verflochten sind. Sie sind beruflich erfolgreich, in den Metropolen zu Hause und seeeehr reflektiert. Doch irgendetwas fehlt immer. Der Papa, die Mama; die Liebe, die Erektion. Aus all den seifenoperartigen Konstellationen ragt eine Figur heraus. Roland Oberstein, Wirtschaftswissenschaftler, im Privaten ewiger Student, Grünbergs Prototyp des postmodernen Menschen. Ob er apathisch oder sensibel reagiert, ist die Entscheidung seines unreflektierten rational-egomanischen Regimes. Gefühle sind davon abgespalten.

Autor Grünberg lässt Roland Oberstein und Lea Ranzenhofer auf einer Holocaust-Tagung in Frankfurt am Main miteinander bekannt werden, aber natürlich nicht sogleich miteinander schlafen. Sie ist Rudolf-Höß-Spezialistin aus New York, verheiratet, zwei Kinder. Oberstein, der Adam-Smith-Spezialist, „ist seiner Meinung nach glücklich, weil er nach nichts strebt, das er nicht bekommen kann“.

„Was er will“, so typologisiert ihn Grünberg weiter, „ist für ihn erreichbar. Und was nicht erreichbar ist, will er auch nicht. So einfach ist sein Glücksrezept.“ Und an anderer Stelle: „Nie hat er sich für einen phantastischen Liebhaber gehalten – was ihn nicht verunsichert: Er weiß, dass der Ehrgeiz, jemand sein zu wollen, der man nicht ist, nur zu Leiden für alle Beteiligten führt.“ Es sind nicht zu wenige, die so durchs Leben segeln.

Doch wie hieß es eingangs in dem Zitat: Sex ist keine Rettung. Abgeklärt erzählt Grünberg von den ineinander verschachtelten Liebes- und Leidensbeziehungen der Leas, Rolands, Violets, Jasons, Sylvies oder Wytses, was sie eint und was sie trennt. Der Atlantik genauso wie eine Walter-Benjamin-Lektüre oder die (Nicht-) Empathiefähigkeit für Freund oder Kind, während sie aber kein Problem damit haben, über jede erfahrene Intimität über- und miteinander zu quatschen. Ein merkwürdiges, halbemanzipiertes Völkchen.

Aber was ist es denn, das ihnen fehlt? „Mit Haut und Haaren“ besteht ähnlich wie Richard Altmans berühmter Film „Short Cuts“ aus den ineinander verflochtenen Erzählsträngen eines Ensemble sich kreuzender Paare. Deren singuläre Berufs- und Privatleben scheinen sozial relativ konsistent und könnten so ein Sittengemälde einer bestimmten Schicht in den Metropolen ergeben. Doch Grünberg will mehr. Und überdehnt. Vergewaltigungen, unausgelebte Homosexualität, heimliche Teenagerliebe am Rande von neuen Medien und Holocaustforschung. Da lauern nicht nur für sein Hauptpersonal dann doch gewisse Abgründe.

Arnon Grünberg: „Mit Haut und Haaren“. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Diogenes Verlag, Zürich 2012. 680 Seiten, 22,90 Euro