: In Berlin nicht willkommen?
Das Landesamt für Einwanderung droht einer Holocaust-Überlebenden die Abschiebung nach Israel an. Ihre Tochter ist entsetzt, auch aus der Politik kommt Kritik an der Behörde
Von Uta Schleiermacher
Klara Goldenberg verbringt ihre Tage am Fenster. Die 83-Jährige sitzt dort auf einem Stuhl. Sie hat ihn so hingerückt, dass sie an der hellen, halbdurchsichtigen Gardine vorbei gut auf die Straße blicken kann. Hinter ihr, auf einem niedrigen, schmalen Bett, ordentlich mit Tagesdecke gemacht, liegt ein Stapel Bücher bereit. Romane auf Russisch, von Orhan Pamuk, Donna Tart, Heinrich Böll. Ihre Tochter leiht sie ihr aus der jüdischen Bibliothek oder einer der Stadtbibliotheken aus. „Ich habe schon so oft Strafe gezahlt, weil ich dann vergesse, die Bücher rechtzeitig zurückzugeben“, sagt Lena Kernerman, die Tochter, und lacht. „Es sind so viele.“
Denn das Lesen ist Goldenbergs hauptsächlicher Zeitvertreib. „Wenn es nach der Liste meiner Krankheiten geht, die die Ärzte aufgeschrieben haben, sollte ich das gar nicht mehr können“, sagt Goldenberg, freut sich über ihren Spruch und ein bisschen auch über ihren Trotz. Sie sagt es auf Russisch, Kernerman übersetzt. „Meine Mutter hat schon immer gern gelesen“, fügt sie hinzu, und jetzt lenke es sie von der Unsicherheit über ihren Aufenthaltsstatus ab. Denn Klara Goldenberg ist zwar in der Wohnung ihrer Tochter, trotzdem ist unklar, ob sie bleiben kann – zwischenzeitlich drohte sogar eine Abschiebung.
Das Lesen beschäftigt Goldenberg. Und die Katzen, die kommen, um sich von ihr streicheln lassen. Ihre Tochter hat sie extra angeschafft, seitdem sie ihre Mutter aus Israel zu sich in die Wohnung in Prenzlauer Berg geholt hat. Weil Lena Kernerman noch etwas anderes wahrnimmt, wenn sie ihre Mutter so am Fenster sitzen sieht: „Ich sehe, dass sie antriebslos und ängstlich ist, und ich sehe, dass sich das verschlimmert hat.“ Inzwischen gehe ihre Mutter alleine gar nicht mehr vor die Tür. „Ich bringe sie dazu, mit mir zu spazieren. Und ich koche. Sie sagt, das könnte sie ja auch übernehmen, aber dann macht sie es doch nicht“, sagt Kernerman. „Ich denke, wenn sie allein wäre, würde sie sich vor allem von Süßigkeiten ernähren.“
Klara Goldenberg lebte zuvor in Israel. Sie hatte ihre Mutter im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion verloren, da war sie noch ein Baby. Unzählige Male habe sie diese Geschichte gehört, sagt Kernerman. „Es war 1942, und sie waren im Zug“, erzählt sie. „Meine Mutter war gerade neun Monate alt. Sie wollten fliehen, weil sie jüdisch waren.“ Der Zug sei dann bombardiert worden, die Mutter habe sich schützend über das Baby gebeugt. „Ihre Mutter – meine Großmutter – starb bei dem Angriff. Es ist wie ein Wunder, dass sie das als Baby überlebt hat“, sagt Kernerman. „So habe ich die Geschichte auch immer wieder gehört.“ Goldenbergs Tante, gerade mal 19 Jahre alt, war auch im Zug und nahm das Baby Klara an sich. Später habe sie sie adoptiert. Goldenberg erhielt den Status als Holocaust-Überlebende. 2013 starb die Tante, 2021 auch deren Ehemann.
„Ab da war meine Mutter in Israel ganz allein. Und ich habe gemerkt: Es geht so nicht mehr“, sagt Kernerman. Sie ist die einzige Tochter und nun die einzige noch lebende direkte Verwandte. Sie habe ihre Mutter dann nach Berlin geholt, im Sommer 2023, noch vor dem 7. Oktober. „Nach dem Angriff und dem Massaker der Hamas, als der Krieg losging, da war schon klar, dass sie nicht mehr zurücksollte“, sagt sie.
Kernerman, 55 Jahre alt, lebt seit 17 Jahren in Berlin. Sie hat die deutsche Staatsbürgerschaft, arbeitet als Sozialarbeiterin und hat in Berlin ihre beiden Kinder großgezogen, die inzwischen beide studieren. Der Sohn lebt noch bei ihr in der Wohnung. Ihre Mutter bezog das alte Zimmer der Tochter, am Schrank hängt noch ein Schwarzweißfoto von Audrey Hepburn, an der Wand ein Bild von Jerusalem, das die Tochter gemalt hat.
Um den Aufenthalt ihrer Mutter dauerhaft genehmigen zu lassen, wollte Kernerman bei der Berliner Ausländerbehörde vorsprechen, dem Landesamt für Einwanderung (LEA). „Aber es war unmöglich, einen Termin zu bekommen. Über sechs Monate haben wir es jeden Tag versucht, das war großer Stress, auch für meine Mutter“, sagt sie. „Ich hatte mich informiert und war sicher, dass wir alle Voraussetzungen nach Paragraf 36 erfüllen.“
Paragraf 36 des Aufenthaltsgesetzes regelt, dass in Deutschland lebende Ausländer*innen unter bestimmten Bedingungen ein Familienmitglied zu sich holen können, wenn dieses dringende Unterstützung braucht – und wenn sie diese Unterstützung nur in Deutschland leisten können. Der Paragraf umfasst damit auch kranke und pflegebedürftige Eltern. Wer einen solchen Antrag stellt, muss finanzielle Sicherheiten nachweisen und beweisen, dass eine familiäre Beziehung besteht. „Meine Mutter bekommt eine Rente aus Israel und kann bei mir leben. Ich arbeite, und mein Ex-Mann hat auch zugesichert, dass er einen Teil der Kosten für ihren Lebensunterhalt übernehmen würde“, sagt Kernerman. „Ich möchte auch keine staatliche Unterstützung für sie hier, sie kann sich selbst finanzieren“, ergänzt sie.
Kernerman suchte sich Hilfe, ihr Anwalt stellte zuerst im August 2023 einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis. Er hakte mehrmals nach. „Frau Kernerman hat auch gesehen, dass es Zeit braucht. Sie war sehr geduldig“, sagt er im Rückblick.
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