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Archiv-Artikel

Ein Mensch aus den „berlinfolgen“

SCHRANKENWÄRTER Michael hat bei den Bauarbeiten in der Kastanienallee den Verkehr reguliert: ein Protagonist des Stadtmosaiks

Die Tätigkeit sei sicher kein Traumberuf. Die Arbeit an der Schranke fordere ihn aber voll

VON PLUTONIA PLARRE

Durch die Kastanienallee fegt ein kalter Wind. Es ist Ende Oktober. Der Abschnitt zwischen Oderberger Straße und Schönhauser Allee ist aufgrund von Bauarbeiten gesperrt. Nur Baufahrzeuge, Straßenbahnen und Anlieger dürfen durch. Dafür sorgt Michael – der Mann an der Schranke. Von morgens bis abends steht er da und macht das Gatter auf zu. Viele hunderte Male am Tag. Einmal rechts. Einmal links. Michael trägt über seiner Jacke eine signalfarbene Weste. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe. Alle paar Minuten kommt eine Straßenbahn oder ein Betonmischer. Michael, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, kennt die Fahrer. Wenn die mit ihm auf gleicher Höhe sind, hebt er die Hand zum Gruß.

Michael gehört zu den 52 Menschen, die wir in unserem audiovisuellen Stadtmosaik „berlinfolgen“ porträtiert haben. Die Reihe erscheint seit einem Jahr auf den Internetseiten der taz. Wir haben uns auf die Suche nach Menschen gemacht, die nicht ständig durch die Medien gehen, die ungewöhnliche Leidenschaften haben oder Dinge tun, über die man gern mehr wissen möchte. Nicht jeder, den wir gefragt haben, hat zugesagt. Das Interview, das wir mit jedem Einzelnen führen, wird getrennt von den Fotos gemacht. Das kostet die ProtagonistInnen Zeit, die nicht jeder opfern möchte.

Der Schrankenwärter Michael hat sofort zugesagt. Dennoch droht das Unterfangen zu scheitern. Das liegt daran, dass man mit Michael keinen festen Termin vereinbaren kann. Er weiß nicht vorab, wann er Feierabend hat. Die Baufirmen entscheiden über das Schichtende. Ende Oktober herrscht in der Kastanienallee ziemlich Druck, weil die Straßenarbeiten noch vor vor dem Frosteinbruch fertig werden sollen. Sobald er Feierabend hat, hat Michael nur noch eins im Sinn: nach Hause ins Warme, die Füße hochlegen – ohne Presse am Hals.

Uns bleibt also nur, in Nähe seiner Schranke zu warten, bis der Hammer fällt. Zwei Stunden vergehen. Die Sonne ist längst untergegangen. Endlich ist es so weit, die Bauarbeiter packen ihre Schaufeln ein, die Maschinen rollen von dannen. Michael öffnet die Schranken und gibt die Straße frei. Jetzt heißt es zugreifen: „Nur eine halbe Stunde. Bitte!“ Michael willigt zögernd ein. Aber jetzt gleich, keine langen Wege irgendwohin. Seit dem frühen Morgen sei er auf den Beinen, er sei kaputt: „Man zieht sich aus, macht sein Abendbrot, guckt vielleicht noch mal kurz im Fernsehen, damit man weiß, was am Tag überhaupt los gewesen ist.“ Dann sei schon Zeit, sich fürs Bett fertig zu machen.

Die Cafés in der Umgebung sind zu laut für das Interview – wir arbeiten mit einem hochsensiblen Aufnahmegerät. Da würde jede Lärmquelle stören. Die Hintergrundgeräusche, die die „berlinfolgen“ so lebendig erscheinen lassen – bei dem Video über Michael ist es der Lärm der Kastanienallee –, werden auf einer gesonderten Tonspur hinzugefügt.

Die German Language School in der Kastanienallee ist unsere Rettung. Es gibt einen freien Raum, den wir für eine halbe Stunde nutzen dürfen. Das Mikrofon so dicht am Mund ist irritierend, Michael ist etwas befangen, wird aber zunehmend gesprächiger. Er erzählt, dass er von Beruf eigentlich Baggerfahrer ist; dass er aus einem „Intelligenzlerhaushalt“ komme; dass seine derzeitige Tätigkeit sicher kein Traumberuf sei; dass die Arbeit an der Schranke ihn aber voll fordere. „Es darf einfach nicht passieren, dass es einen Unfall gibt, weil ich nicht aufgepasst habe.“ Von den Leuten, die ihn passieren, würde er sich öfters mal ein gutes Wort wünschen. Am schlimmsten seien die Radfahrer. Die sähen einfach nicht ein, dass sie eine Kurve um die Absperrung fahren müssten. „Man muss ein dickes Fell haben.“

Die halbe Stunde ist um. Bei ihm zu Hause in Lichtenberg gebe es niemanden, der auf ihn warte, erzählt Michael. „Ich lebe als Junggeselle, was in diesem Beruf auch deutlich besser ist, obwohl es nun nicht diese Erfüllung ist.“ Aber so gebe es keine Probleme mit der Familie, wenn man zu allen möglichen Zeiten eingesetzt werde. Er schnappt sich seinen Rucksack, ein fester Händedruck, dann zieht er in Richtung U-Bahn davon, „geht ja früh raus“.

Der Fotograf Lukas Kawa besucht Michael in den nächsten Tagen zweimal. Michael kostet das diesmal aber keine Zeit. Der Fotograf bewegt sich so, dass man kaum merkt, dass er da ist. Michael zieht seine Schicht durch, konzentriert wie immer.

Die Menschen ungekünstelt in ihrem ganz normalen Lebensumfeld zu zeigen, darum geht es bei den „berlinfolgen“. Auch fotografisch. Der Rest entsteht am Schneidetisch unter der Produktionsleitung von Michael Hauri.