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Archiv-Artikel

Das Kostüm ist die Botschaft

Zum zehnten Mal defilierte an Pfingsten der „Karneval der Kulturen“ durch Kreuzberg: Inzwischen hat das Multikulti-Spektakel der Love Parade den Rang als größtes Straßenfest Berlins abgelaufen, harrt aber noch seiner poptheoretischen Durchdringung

VON DANIEL BAX

Der Verkehr brach schon am Donnerstagabend zusammen. Weil mit dem Platz um den U-Bahnhof Hallesches Tor eine zentrale Verkehrsader Kreuzbergs abgesperrt worden war, stauten sich in den Nebenstraßen die Autos. Zum zehnten Jubiläum wurde der „Karneval der Kulturen“ flächenmäßig noch einmal ausgeweitet. Wegen des anfänglich trüben Wetters kamen zwar weniger Besucher zur Karnevalsparade und den diversen Bühnen als im letzten Jahr, als man in vier Tagen 1,8 Millionen zählte. Aber in seiner Bedeutung als größtes Straßenfest der Stadt hat der Kultur-Karneval damit die Love Parade abgelöst, die in diesem Jahr nun bereits zum zweiten Mal abgesagt wurde.

In zehn Jahren hat sich der „Karneval der Kulturen“, seinem biederen Namen zum Trotz, zu einer echten Institution ausgewachsen: zu einer Multikulti-Karawane von über hundert Wagen, deren auffälligster von einer Jury prämiert wird, und einem dreitägigen Straßenfest mit vier Open-Air-Bühnen, auf denen sich über vier Tage hinweg viele Lokalheroen präsentieren, aber auch manche Band mit Plattenvertrag wie etwa das HipHop-Kollektiv Culcha Candela oder die Afrobeat-Formation Rhythm Taxi.

Auch in diesem Jahr mischten sich wieder die Karnevalstraditionen aus den unterschiedlichsten Epochen und Regionen auf der Straße: Venezianische Masken konkurrierten mit afrikanischen Kostümen, fragile Stelzenläufer folgten auf massive Sound Systems. Akustisch dominierten wie immer die südamerikanischen und afrikanischen Percussion-Ensembles: Womöglich ist Berlin die Stadt mit den meisten Trommelgruppen aus aller Welt. Um einem tragbaren Altar hüpften Anhänger der Hare-Krishna-Sekte, und hinter einem christlichen Gospelchor marschierte die Prostituiertenorganisation Hydra mit einem Sarg, der die Aufschrift „Aids“ trug.

Eine bolivianische Volkstanzgruppe hatte sich Zettel mit der Aufschrift „gegen Studiengebühren“ auf den Rücken geheftet, und eine Kung-Fu-Akademie zerschlug mit „Hartz IV“ oder „1-Euro-Job“ beschriftete Betonplatten. Ansonsten überwogen die kommerziellen Botschaften: Für Sambagruppen, Karateschulen und Capoeira-Kurse ist die Parade schließlich ein ideales Forum, um für sich zu werben. Auch der neue Freizeitpark „Tropical Island“ vor den Toren Berlins hat das erkannt und rückte zu Reklamezwecken mit einem guten Dutzend Tänzerinnen und Tänzern in Baströckchen und Blumengirlanden von der Südseeinsel Samoa an.

Zwar hat das Multikulti-Spektakel der Love Parade längst den Rang abgelaufen, doch wurde es bislang nicht annähernd so theoretisch und popjournalistisch durchdrungen wie die Techno-Parade, die noch zuletzt, als sie nur noch ein Massenbesäufnis brandenburgischer Jugendlicher unter der Siegessäule war, zu einer Art Epiphanie des popmusikalischen Weltgeists überhöht wurde. Der Karneval der Kulturen dagegen wird bis heute bestenfalls als „Multikulti-Frohsinn“ milde belächelt, wie das Stadtmagazin Zitty titelte.

Auch die Weihen einer universitären Analyse, die der Love Parade im Übermaß zuteil wurden, hat er bislang kaum erfahren. Ein Studienprojekt am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität ist nun erstmals der Frage nachgegangen, was manche Menschen jedes Jahr aufs Neue antreibt, sich in Schwanenkostüme oder exotische Folkloretrachten zu zwängen und sich in Trommelgruppen oder Samba-Defilees einzureihen. Das Ergebnis ihrer Forschung liegt nun in einem Buch vor („Plausible Vielfalt“. Hrsg. Michi Knecht und Levent Soysal, Panama Verlag, Berlin 2005), das die unterschiedlichen Motivationslagen offen legt.

Denn für Berlin mag der „Karneval der Kulturen“ vor allem eine Frage des Hauptstadtmarketings sein. Für die vielen der Migranten, die ihn tragen, bildet er eine einmalige Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren – ob aus politischer Absicht, aus Minderheitenstolz oder aus rein pragmatischem Geschäftsinteresse. Das macht den Karneval zu einem Politikum: zu einer Demonstration für einen positiv besetzten Begriff von Multikulturalität und für den Standort Kreuzberg als dessen idealen Ort. Ein Image, das dem Selbstbild der meisten seiner Bewohner weit mehr entspricht als das verbreitete Ghetto-Image.

Parallel zum „Karneval der Kulturen“ fand am Wochenende in Berlin ein Kongress statt, der ihn mit Sommerkarnevals in anderen Städten verglich. Denn dem Vorbild des karibischen „Notting Hill Carnival“ in London folgend, der vor fast vierzig Jahren aus regelrechten race riots hervorging, hat sich das Phänomen nunmehr auf friedlichem Wege weltweit verbreitet – ob in Weltstädten wie Brüssel, Rotterdam oder New York oder auch in Lyon oder Bielefeld. Sommerkarnevals sind ein globales Kulturevent geworden.

Der Berliner „Karneval der Kulturen“ ist ein Kind der Projektszene der Stadt und kann seine Geburt aus dem Geist der Sozialpädagogik bis heute nicht ganz verhehlen. Dennoch bildet er inzwischen ein Kulturereignis ersten Ranges. An seiner Wiege mag einst eine folkloristische Vorstellung von Multikulturalität gestanden haben, die von klaren Differenzen zwischen den Kulturen ausging. Heute dagegen ist der „Karneval der Kulturen“ ein Schaufenster für die Unübersichtlichkeit urbaner Lebensstile, die jedem Anspruch auf Authentizität hohnsprechen: Schließlich tanzt in jeder ausländischen Folkloregruppe mindestens ein Deutscher mit, und noch der traditionellste Trachtentänzer geht im Alltag einem bürgerlichen Beruf nach.

Zudem weist der „Karneval der Kulturen“ viele Parallelen zur Love Parade auf, die ihn als legitimen Erben empfehlen. Das Dekor vieler Umzugswagen erinnert an den Charme der frühen Techno-Umzüge auf dem Kurfürstendamm, als die auffälligsten Karossen noch nicht von Camel gesponsert, sondern in liebevoller Kleinarbeit in irgendeinem Hinterhof zusammengelötet worden waren. Wie bei der Love Parade hat sich um das eigentliche Ereignis herum eine ganze Reihe Konzerte und Party-Events gruppiert. Und viele Reggae Sound Systems haben den Karneval schon lange als alternative Paradestrecke für sich entdeckt; selbst Dr. Motte konnte man in früheren Jahren des Öfteren auf einem improvisierten Lautsprechertruck erleben.

Die multikulturelle Gesellschaft mag, wie Skeptiker gerne bemerken, kein immer währendes Straßenfest sein. In Berlin aber hat sie immerhin eines der größten Spektakel ihrer Art hervor gebracht. Damit ist sich der Karneval selbst noch immer Botschaft genug.