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Archiv-Artikel

Pflicht zur Macht?

Man muss kein Gegner von Stuttgart 21 sein. Wenn man aber vorgibt, es zu sein, und sich für dieses Ziel an die Regierung wählen lässt, dann steht man im Wort. Man muss kein Befürworter von Volksabstimmungen sein. Es gibt gute Argumente gegen eine direkte Demokratie, die auch unsympathischen Entscheidungen Tür und Tor zu öffnen vermag. Aber wenn man für Bürgerentscheide ist, dann muss man deren Ergebnisse respektieren, ob sie einem gefallen oder nicht. Ein Beitrag zur Kontext-Debatte, das Traumatisierende von Stuttgart 21 zu überwinden

von Thomas Rothschild

Was ist nun, wenn diese Prinzipien miteinander in Konflikt geraten? Genau das ist den Grünen in Baden-Württemberg passiert. Sie sprachen sich in ihrer großen Mehrheit gegen Stuttgart 21 und – in der Hoffnung, sie würde in ihrem Sinne ausgehen, versteht sich – für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 aus. Das „Volk“ hat bekanntlich mehrheitlich für Stuttgart 21 gestimmt. Wurde damit die Ablehnung der Grünen von Stuttgart 21 hinfällig?

Politiker müssen sich, an die Macht gekommen, fragen lassen: Stehen sie für die Werte der Klientel, die sie an die Macht gebracht hat, oder wollen sie sich allen gefällig erweisen, also gegebenenfalls einer Mehrheit, die genau jene Werte ablehnt, deretwegen sie von einer anderen (relativen) Mehrheit gewählt wurden?

Der naive (deshalb aber nicht notwendig dumme) politische und moralische Verstand würde einem einflüstern: Wenn ein Regierender nicht verwirklichen kann, was er für richtig hält, wenn er, sich einer Mehrheit beugend, genau das Gegenteil von dem durchführen soll, was durchzuführen er sich angeblich angeschickt hatte, dann muss er sein Amt zurückgeben. Als Oskar Lafontaine den sozialdemokratischen Parteivorsitz niederlegte, moserten viele angeblich linke Sozialdemokraten, er habe sie im Stich gelassen. Dabei hatte Lafontaine zuvor ausdrücklich benannt, unter welchen Umständen er aus der Partei austreten würde: wenn diese mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV, die er nicht vertreten kann, in den Bundestagswahlkampf zöge.

Wenn das Selbstverständliche unüblich geworden ist

Genau das war dann der Fall, und Lafontaine hat die angekündigte Konsequenz gezogen. Er tat das Selbstverständliche, das unüblich geworden ist. Er hielt sein Wort. Er scheint als einer der Letzten in der Politik noch den Sinn eines Konditionalsatzes zu begreifen. Er verließ seine Partei, als er erkennen musste, dass sich die Werte, die er für unverzichtbar hielt, in Schröders SPD nicht verwirklichen ließen. Ist das so schwer zu verstehen? Ist es absurd, auch von grünen Politikern zu erwarten, dass sie vergleichbar handeln?

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die meisten führenden Politiker seiner Partei haben sich, ehe Kretschmann in sein Amt gewählt wurde, mehrfach für einen Bürgerentscheid ausgesprochen. Meinten sie den erhofften Schleichweg zur Verhinderung von Stuttgart 21 oder meinten sie, weit darüber hinaus, eine radikaldemokratische, eine basisdemokratische Politik?

Wie glaubwürdig sind eigentlich die Grünen, wenn sie Volksabstimmungen befürworten und sich zugleich für einen Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck starkmachen, der lange vor der Volksabstimmung bei „Beckmann“ in der ARD die Politik aufgefordert hat, das Bahnprojekt Stuttgart 21 trotz der Bürgerproteste zu realisieren? In jahrelangen Prozessen seien Entscheidungen zu dem Milliardenvorhaben gefallen, die bekannt gewesen seien. „Und diese Entscheidungen jetzt nicht zu vollziehen, das wäre ja fast eine Straftat. Die Politiker, die jetzt sagen, ich baue einfach nicht weiter, die dürfen das gar nicht tun, wenn sie sich selbst ernst nehmen.“ Kann man zugleich die Berücksichtigung von Bürgerprotesten propagieren und diese Berücksichtigung für eine Straftat halten? Kann man direkte Demokratie predigen und zugleich einen Kandidaten unterstützen, der ein entschiedener Gegner von direkter Demokratie ist – jedenfalls wenn sie nicht in der DDR stattfindet?

Gibt es eigentlich für Winfried Kretschmann und seine Partei eine conditio sine qua non des Regierens, oder geht es ihnen, wie all den anderen Parteien, nur um die Partizipation an der Macht mitsamt den Privilegien, die sie einbringt? In Schillers „Don Karlos“ lässt der Marquis Posa seinem Jugendfreund bestellen: „Sagen Sie/ Ihm, dass er für die Träume seiner Jugend/ Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.“ Von den Träumen ihrer Jugend haben sich jene Grünen längst verabschiedet, die wie Kretschmann einst die Schrecken einer Gesellschaft begriffen hatten, in der einige wenige auf Kosten der großen Mehrheit Reichtümer anhäufen und der Profit alle anderen Werte dominiert. Diese Schrecken sind ja durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums und die Einsicht in die wahren chinesischen Verhältnisse nicht geringer geworden. Im Gegenteil. Dass der liebe Gott, dem Winfried Kretschmann großen Kredit einräumt, diese Schrecken nicht beseitigt und für Gerechtigkeit sorgt, müsste eigentlich selbst einem religiösen Fundamentalisten klar geworden sein. Sollte die Qualität der gegenwärtigen baden-württembergischen Regierung nur im Vergleich mit ihren Vorgängern liegen? Reicht „nicht ganz so schlimm“? Oder stehen die Grünen und ihre Repräsentanten für unverzichtbare Werte, für nicht aufgebbare Positionen?

Wir wissen, dass pacta servanda sunt. Das wussten auch die Grünen, als sie in den Wahlkampf zogen. Und sie kannten die Probleme, die sich ergeben würden, wenn sie mit diesen bestehenden Verträgen an die Regierung kämen. Wir wissen, dass Mehrheiten, wenn man sich zu einer Volksabstimmung bekennt, eine wenn nicht juristische und politische, so doch eine moralische Verpflichtung auferlegen. Das wussten auch die Grünen. Warum haben sie nicht vorher angekündigt, welche Konsequenzen sie ziehen werden, wenn die Politik, die sie für richtig halten, nicht von einer Mehrheit unterstützt wird? Dann macht man eben das Gegenteil? Johann Nepomuk Nestroys Titus Feuerfuchs sagt: „Ich qualifizier mich für alles.“ In der Politik bedeutet das das Ende der Moral.

In dem Film „Citizen Kane“ kauft der Eigentümer des Inquirer die gesamte Redaktionsmannschaft des konkurrierenden Chronicle ein. Sein Freund Jedediah Leland stellt dem Kollegen Bernstein eine rhetorische Frage: „Do we stand for the same things the Chronicle stands for, Bernstein?“ Bernstein antwortet: „Certainly not. Listen, Mr. Kane, he’ll have them changed to his kind of newspapermen in a week!“ Darauf Leland: „There’s always a chance, of course, that they'll change Mr. Kane, without his knowing it.“ Wer sich mit Leuten einlässt, die andere Werte, andere Überzeugungen haben als man selbst, geht stets ein Risiko ein. Selbst wenn Kretschmann das Selbstbewusstsein eines Kane besitzt, ist nicht auszuschließen, dass er über kurz oder lang bei jener Mehrheit landen wird, der er jetzt, stets in der vagen Hoffnung, sie umzustimmen, nachgibt. Er ist auf dem besten Weg dahin.

Mehr sein als nur ein williges Werkzeug

Ja, es gibt Mehrheitsentscheidungen, die zu respektieren sind oder an die man sich freiwillig binden mag. Ja, es gibt Sachzwänge. Aber es gibt keine Verpflichtung, an der Macht teilzuhaben. Wenn man der Politik jene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, deren Verlust allgemein beklagt wird, wenn man Moral in der Politik nicht für eine obsolete Kategorie hält, wenn Pragmatismus nicht bloß ein Synonym für Charakterlosigkeit bleiben soll, dann muss man mehr sein wollen als das willige Werkzeug schwankender Außeneinflüsse. Dann muss man Ziele haben und benennen – sei es die Verhinderung von Stuttgart 21, die Verringerung der Arbeitslosigkeit, die Verstaatlichung der Banken –, und sich verabschieden, wenn das Gegenteil dieser Ziele angesteuert wird. Das mag altmodisch klingen. Aber ist es falsch?

Peter Unfried schrieb an dieser Stelle: „Kretschmann ist immer noch relativ unpopulistisch, sehr unprätentiös und meist fern von üblichen Inszenierungen und Plattitüden. Mit einem Wort: auch für einen Politiker glaubwürdig.“ Ist Glaubwürdigkeit wirklich bloß eine Frage der Inszenierung? Hängt sie nicht auch von Inhalten ab? Daher noch einmal: Wofür stehen die Grünen? Wofür steht Kretschmann? Was, wenn nicht die Verhinderung von Stuttgart 21, ist die Raison d'être ihrer Regierung? Was ist für sie unverzichtbar? Und was muss geschehen, damit sie sagen: Nicht mit uns. Das machen wir nicht mit.

„Wer braucht Sachargumente, wenn er die Mehrheit hat?“, fragt Peter Unfried ironisch, auf die ehemalige CDU-Regierung gemünzt. Aber weiter gefragt: Sind Sachargumente richtig oder falsch, je nachdem ob man (bei Landtagswahlen) eine Mehrheit oder (bei einer Volksabstimmung) keine Mehrheit hat? Und sollen Sachargumente nur Gerede bleiben, oder müssen sie auch Folgen haben?

Thomas Rothschild, geboren in Glasgow, aufgewachsen in Wien, ist promovierter Literaturwissenschaftler, Autor und Journalist. Der streitbare Geist lehrte Linguistik und Literaturwissenschaft an der Uni Stuttgart und war Mitglied des Kulturausschusses der Stadt Stuttgart. Seit 2011 ist Rothschild Präsidiumsmitglied des deutschen Schriftstellerverbands P.E.N.