berliner szenen: Ceci n’est pas une scène
Heute war Anything-but-a-Backpack-Tag“, sagt Johanna und strahlt dabei über beide Ohren.
Johanna ist Lehrerin an einem Berliner Gymnasium. Dass dieser Mottotag ansteht, hatte sie mir erzählt. Die Abiturientinnen und Abiturienten kommen dann nicht mit Rucksäcken und Schultaschen in die Schule, sondern mit irgendetwas anderem, in dem sie ihre Ordner, Federtaschen und Bücher transportieren. „Erzähl“, sage ich. „Mirko hatte seine Hefter in einer Mikrowelle. Wanda war mit einer Heißluftfriteuse gekommen. Es gab einen Reiskocher, einen Vogelkäfig und eine Babytrage. Alle mit Schulsachen gefüllt. Ein paar Klassiker wie Pizzakartons, Mülleimer und Kopfkissenbezüge waren auch dabei. In der ersten Reihe neben Laila saß ein Junge. Er war elf, vielleicht zwölf. ‚Wer bist denn du?‘, fragte ich ihn. ‚Ich bin Lailas Tasche.‘ Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er sich mit seinem Namen vorstellen. ‚Okay, Lailas Tasche‘, sagte ich. ‚Dann hol mal das Französischbuch raus.‘ Was er sofort machte. ‚Mes chers élèves‘, sagte ich. ‚Kennt von euch jemand das Bild Ceci n’est pas une pipe von René Magritte?‘ Ein paar nickten, ein paar schüttelten den Kopf. Ich deutete auf Lailas Tasche. ‚Ceci n’est pas un garçon.‘ Wanda meldete sich und zeigte auf ihre Heißluftfriteuse. ‚Ceci n’est pas une friteuse à air chaud.‘ ‚Ceci n’est pas une boîte à pizza‘, sagte Malik. Mila zeigte auf die Tür und sprach ihr ihr Türsein ab.
Und so ging es weiter. Für den Rest der Stunde stand surrealistische Wortschatzerweiterung auf dem Lehrplan. Es war eine Freude zu sehen, wie alle, wirklich alle, mitgemacht haben. Sogar Lailas Tasche hat sich beteiligt.“
Ich sehe Johanna an. Sehe, wie sie von innen und außen strahlt. Ceci est une femme heureuse, denke ich. Da hat eine bei der Berufswahl aufgepasst.
Daniel Klaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen