: Wenn einen ein Buch alles vergessen lässt
Wahrscheinlich kommen sie vom Sporttraining oder sie hat ihn von der Schule abgeholt. Jedenfalls sind der Junge und seine Mutter mit Schulranzen, Sportbeutel, Tretroller und Tasche beladen, als sie am Humboldthain aus der S-Bahn steigen. Der Junge ist etwa acht Jahre alt und so in sein Buch vertieft, dass er es nicht mal aus der Hand legt, als sie die Treppe zur Straße hochstapfen. Deswegen muss seine Mama neben dem Ranzen auch den Tretroller tragen. Ihre eigene Tasche sowieso – ein Symbolbild über Mutterschaft und weibliche Care-Arbeit, aber das führt hier vielleicht zu weit.
Eine solche Bereitschaft, sich zwischen den Seiten zu verlieren, sieht man selten. Und noch dazu bei so einem jungen Leser.
Berlin-Gesundbrunnen
95.800 Einwohner*innen.
Der Volkspark Humboldthain ist das Grün im Ortsteil. Leseempfehlung: „Zwei Leben in Deutschland“, die Autobiografie des „Dalli Dalli“-Moderators Hans Rosenthal, der vor 100 Jahren im Jüdischen Krankenhaus in Gesundbrunnen geboren wurde.
An der Straße angekommen, greift der Junge nach dem Roller und steigt aufs Trittbrett – ohne den Blick vom Buch abzuwenden. Das balanciert er in der Hand, die gleichzeitig den Lenker hält. In Schlangenlinien versucht er, neben der Mutter herzufahren. Ein unmögliches Unterfangen. Sie lässt es ihn einige Zeit versuchen, bis sie ihn in die Wirklichkeit zurückholt, behutsam und bestimmt. Das Buch kann er ja nachher weiterlesen. Marie Gönnenwein
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