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Die Zukunft der Oper

Mit niederländischem Pragmatismus: Das Forward Opera Festival begeistert in Amsterdam mit progressivem Programm, niedrigschwelligen Produktionen und kultureller Öffnung

Goldrichtig getimt: Szene aus „Codes“ mit insgesamt 170 Jugend­lichen auf der Bühne Foto: Michael Schnater

Von Joachim Lange

Amsterdam gelangt ohne besonderen Grund spielend auf fast jede Reisewunschliste. Soeben bot die Niederländische Nationaloper in der Grachtenmetropole mit dem „Forward Opera Festival“ aber auch eine Besonderheit, bei der sich Hinsehen und Hinhören allemal lohnt. Vom 14. bis 23. März widmete sich das wichtigste Opernhaus unserer Nachbarn zum mittlerweile neunten Mal der Zukunft der Oper, inklusive der ihres Publikums. Aber nicht als esoterische Nabelschau, sondern mit dem holländischen Pragmatismus, der das Genre Oper ohne bildungsbürgerliche Vorbehalte erst im späten 20. Jahrhundert wirklich im Lande etabliert hat.

Und das machen die Holländer niedrigschwellig. Adressiert an ein junges Publikum und bewusst auch an Zuschauer mit migrantischem Hintergrund. Den Kern des Festivals, um den sich viele kleine Veranstaltungen gruppierten, bildeten experimentelle Novitäten, die im Het Muziektheater, dem in den 80er Jahren in einem Komplex mit dem Rathaus errichteten Opernhaus an der Amstel, präsentiert wurden. In den letzten Jahren gab es etwa die Orpheus-und-Eurydike-Version („Eurydice – Die Liebenden, blind“) des deutschen Komponisten Manfred Trojahn von 2023. Im Jahr darauf die Opern-Version der „Farm der Tiere“ nach dem Bestseller von George Orwell.

Ganz so repertoirekompatibel sind die drei aktuellen Produktionen zwar nicht, aber in ihrer Kombination folgen sie auf verschiedene Weise dem Anliegen des Festivals – sowohl mit dem Blick auf gesellschaftliche Fragen der Gegenwart als auch auf die formale und inhaltliche Zukunftsfähigkeit des Genres.

Dem klassischen Opernverständnis am nächsten kommt dabei „We Are the Lucky Ones“. Inhaltlich geht es in dieser hauptsächlich gesungenen Nummer-Collage mit großem Orchester um die sogenannten Babyboomer-Generation. Die Musik stammt vom britisch-deutschen Kom­po­nis­ten ­Phi­lip Venables. Das Libretto haben Regisseur Ted Huffman und Nina Segal aus Interviews destilliert, die sie mit über 70 Westeuropäern geführt haben, die zwischen 1940 und 1949 geboren wurden. Herausgekommen ist dabei so etwas Ähnliches wie das Durchblättern von Fotoalben. Vier Paare wechseln sich in 64 Gesangszenen, 5 Zwischenspielen und 8 Sprechszenen chronologisch geordnet mit ihren privaten Lebenserinnerungen ab.

In gemischter Kleidung zwischen festlich und Alltag treten sie vor den eisernen Vorhang, können auch das Orchester umrunden. Bassem Akiki und das Residentie Orkest (das zum Pool der niederländischen Orchester gehört, die die Oper bespielen) begleiten mit einem Sound, der zwischen Musik der Erinnerung, wilden Ausbrüchen und lyrischen Momenten wechselt, die vier durchweg exzellent singenden Protagonisten. Deren vitales Parlando bildet denn auch den Kern des Ganzen.

Das ist musikalisch virtuos gemacht, bleibt aber doch eher eine an der Oberfläche surfende Zeitreise. Wenn etwa der Mauerfall nur als die individuelle Erfahrung einer Mutter vorkommt, die der Mann Richtung Westen verlassen hat. Oder wenn ein Flugzeug eingeblendet wird, man unwillkürlich an 9/11 denkt und dann „nur“ von einer Urlaubsreise die Rede ist, die man sich gönnt, bleibt nur das Ausweichen in die eigene Erinnerungen. Auch wenn es gegen Ende mit fortschreitendem Alter immer melancholischer wird, Rat- und Antwortlosigkeit offenbar werden, verweist das die Zuschauer nicht nur an sich selbst, sondern auch auf den fehlenden Tiefgang dieser Selbstbefragung einer ganzen Generation.

Man kann nur staunen, wie man eine solche Masse auf einer Bühne in ein Ensemble verwandeln kann

Ein obendrein goldrichtig getimtes Stück der Antworten ist dagegen das von Gregory Caers mit 170 (!) Jugendlichen inszenierte Stück „Codes“. Es ist faszinierend, wie hier die jungen Akteure einzeln und dann in kleinen und immer größer werdenden Gruppen nach ihren Bewegungs- und Ausdrucksritualen im Umgang mit unterschiedlichen Lebenssituationen suchen, dabei verschiedene Erfahrung machen und immer wieder in neue Bewegungsmuster übersetzen und dabei singen und auch sprechen. Man kann nur staunen, wie man eine solche Masse auf einer Bühne in ein Ensemble verwandeln kann, das mit seiner Kraft fasziniert – Einzelnen ihren Auftritt verschafft und am Ende alle in den Bann zieht.

Auf besondere Weise funkelte „Oum – A Son’s Quest for His Mother“ der Komponistin Bushara El Turk im Festivalprogramm. Ihr besonderer Reiz besteht in der formal und inhaltlich weitesten Entfernung vom mitteleuropäischen Opernverständnis. Oum ist der Vorname von Oum Kalthoum (1904–1974). In der arabischen Welt (und bei den Arabern in der europäischen Diaspora) ist sie mit ihren Liedern auch heute noch offenbar eine allgegenwärtige Ikone der klassischen arabischen Musik. Eine Ahnung davon, worin die Suggestivkraft ihrer Musik besteht, bekommt man vor allem am Ende der anderthalb Stunden mit einer ausführlich zelebrierten Reverenz an diesen Megastar.

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