: Der Märtyrer als junger Poet
Radikales Künstlertum. US-Autor Kaveh Akbar gilt mit seinem Debütroman „Märtyrer!“ als Shootingstar der amerikanischen Kulturszene. Sein popkulturell überhöhter Individualismus trifft auf Politik und Weltgeschehen
Von Andreas Fanizadeh
Kaveh Akbar, geboren 1989, ist Lyriker und unterrichtet Kreatives Schreiben an der Universität von Iowa. Sein Debütroman „Martyr!“ wird in den Feuilletons von New York Times, Publishers Weekly, The Atlantic, National Public Radio oder New Yorker umfangreich gewürdigt. Für nicht wenige ist es der Roman des Jahres 2024. Tatsächlich verspricht der nun bei Rowohlt in deutscher Übersetzung von Stefanie Jacobs erscheinende, poppig gestaltete Titel „Märtyrer!“ so einiges an halluzinogenem Spaß. Neues hedonistisches Hippietum trifft literarisch auf existenziell Gefährliches. „Märtyrer!“, der Titel ist ohne Zweifel provokativ gewählt. Doch um welches Märtyrertum geht es diesem US-amerikanischen Autor hier?
Als Märtyrer gelten gemeinhin Menschen, die um des Bekenntnisses ihres Glaubens willen leiden und dafür auch bereit sind, in den Tod zu gehen. Hierzu gleich eine Entwarnung: Kaveh Akbar, Sohn einer US-amerikanischen Mutter und eines iranischen Vaters, geboren 1989 und laut eigener Aussage seit seinem zweiten Lebensjahr in den USA lebend, geht es weniger um ein religiöses als um ein künstlerisches Märtyrertum. Also kein 9/11-Syndrom.
Das, was in dem Roman in Andeutungen mitschwingt, ist eher ein Spiel mit Radical Chic, radikalem Individualismus, Vorstellungen von Rassismen, Historie und einem ethnisch geprägten Verständnis kultureller Hierarchien.
Akbars Hauptfigur Cyrus Shams, eine Art Alter Ego des Autors, ist ein trockener Alkoholiker, Ende 20, in Indiana. Neben der homosexuellen Liebe zu seinem Freund Zee sucht der junge Mann Erleuchtung durch wahre Poesie. Er bemüht sich, Kunst- in Lebenspraxis in allen Lagen seines Alltags zu überführen.
Diesem Zwangscharakter in „Märtyrer!“ zu folgen, ist anfänglich durchaus unterhaltsam. Akbars Figur reagiert launisch, literarisch unberechenbar, etwa als Proband für Studierende der Medizin, um ein wenig Geld in Rollenspielen zu verdienen. Cyrus beansprucht fortwährend die Hauptrolle; Statist zu sein, ist nicht sein Ding. Anziehung wie Abscheu vor „Normalos“ gehen Hand in Hand. Republikaner hassen, aber mit Töchtern wohlhabender Republikaner schlafen? Geht doch. Aber nicht lange.
Die Schilderungen seiner existenziell-grüblerischen Hauptfigur gelingen dem Autor literarisch scheinbar mühelos. Innere Monologe, eingeflochten in Beobachtungen und Erlebnisse aus dem US-amerikanischen Universitätsumfeld oder bei den Anonymen Alkoholikern, wirken authentisch und lebensnah. Dieser Typ berauscht sich an sich selbst und ist im nächsten Moment wieder zu Tode betrübt. Auf narzisstische Auftritte folgen depressive Schübe.
Kaveh Akbars Protagonist zitiert auch lieber nordamerikanischen Underground („Twin Peaks“) als religiöse Mythen des Dschiihadismus. Aber auch immer wieder und sehr viel persische Hochkultur. Cyrus hat ein ethnisch-kulturelles Identitätsproblem. Und so bemüht der Schriftsteller neben leichthin ausgestreuten Bezügen zu Wagner, Borges, T-Rex oder David Lynch auch ausgiebig persische Dichtergrößen wie Ferdausi oder Hafiz.
Manches klingt dabei wie ein gönnerhaft gegebener Grundkurs in persischer Hochkultur, leicht ethnisch-exotistisch wirkend. Diese philosophische Kunstwelt soll aber das Korsett sein, in dem sich Autor und seine Figur Cyrus bewegen. Denn da draußen lauert die üble (republikanische) Realität, die banale (aber doch auch reizvolle) Geschöpfe hervorbringt. Und das böse Ganze: die Politik.
Mit etwas Glück trifft Hyper-Individualist Cyrus auf Gleichgesinnte. Der Märtyrer als junger Poet reist auf der Suche nach absoluter Schönheit und der Auflösung eines Schmerzes am Rande des Sagbaren von Indiana nach New York. Dort will er die iranische Konzeptkünstlerin Orkideh sprechen. Die Exiliranerin lebt seit Jahrzehnten in den USA. Todkrank lässt sie der Autor nun öffentlich im Brooklyn Museum residieren. In ihren letzten Lebenstagen lädt sie Interessierte zu einer stillen Performance ins Museum, um über Gefühle, Biografien und die Endlichkeit zu reden. Eine echte Märtyrerin, wie Cyrus sie sucht, eine Wahlverwandte, vielleicht sogar noch mehr.
Denn Cyrus hat seine eigene (iranische) Mutter als Baby, so Kaveh Akbars grundlegende Romankonstruktion, bei einem Flugzeugunglück verloren. Abgeschossen von der US-Marine über dem Persischen Golf. So viel Gegensatz, so viel Polarisierung muss literarisch sein: Verderbnis durch einen Staat, in den Cyrus dann ausgerechnet mit seinem Vater Ali Shams wird einwandern müssen. Was für eine Konstruktion.
Akbar lässt seinen Protagonisten Cyrus im Gespräch mit Orkideh im Brooklyn Museum den existenziellen Schmerz so ausdrücken: „Na ja, ich schreibe diese Sätze und versuche, Trauer, Zweifel, Freude, Sex oder was auch immer so zu formulieren, dass es so eindringlich klingt, wie es sich anfühlt. Und dabei weiß ich, dass Worte sich nie so anfühlen werden wie die Sache selbst. Sprache wird nie die Sache selbst sein. Also ist das Ganze doch eigentlich von vornherein verdammt, oder? Und ich bin ein Verdammter, wenn ich dem mein Leben widme. Weil ich weiß, dass ich durch mein Schreiben keinem dieser Tode die Bedeutung verleihen kann, die er verdient. Mein Schreiben wird weder den Faschismus aufhalten noch die Erde retten. Es wird meine Mutter nicht zurückbringen, weißt du?“ Und Orkideh erwidert spröde: „Auch sonst niemanden aus diesem Flug.“
Solch lapidare Kommentierungen machen den Roman in seiner ersten Hälfte durchaus zu einem komplexen und unterhaltsamen Lesevergnügen. Die ironischen Brechungen verhindern, dass der Autor und dessen Hauptfigur sich allzu affirmativ in Selbstgewissheit oder Selbstmitleid ergehen. Doch Ironie kann auch ein Trick sein, um ein Werk und seine allzu klaren Botschaften gegen Kritik vorab zu immunisieren.
Die größere politische Setzung des Romans blitzt in dem Zitat aus dem Dialog von Cyrus und Orkideh bereits auf. Cyrus’ Schmerz und Depression und selbst auferlegtes poetisches Märtyrertum sollen schließlich von einem tatsächlich stattgefundenen weltpolitischen Ereignis herrühren. Der Abschuss des Iran-Air-Fluges 655 am 3. Juli 1988 in der Straße von Hormus über dem Persischen Golf ist die ultimative Anklage. Noch dazu mit Cyrus’ Mutter an Bord. Während Vater Ali Shams zusammen mit dem Baby in Teheran geblieben war. Im Anschluss wird Vater Ali mit Kleinkind Cyrus in die USA auswandern, um dort unterbezahlt auf einer Geflügelfarm zu arbeiten.
Ihre Erfahrungen im neuen Umfeld beschreibt Akbar so: „Ali hatte Cyrus eingeschärft, auf die Frage ‚Wo kommst du her?‘ mit ‚Ich kann mich nicht erinnern‘ zu antworten und ahnungslos zu tun, bis sein Gegenüber aufgab. Die Alternative – sich als Iraner zu erkennen zu geben – würde Ali zufolge nur Gewalt und Gefahr heraufbeschwören. Inwiefern genau, führte Cyrus’ Vater nicht weiter aus, und auch diese Unbestimmtheit hielt Cyrus wach.“
Die iranische Familie erscheint so als zweifaches Opfer: eines für den Flugzeugabschuss verantwortlichen US-Militärs sowie eines ausbeuterischen, rassistischen US-Kapitalismus.
Als literarische Gesellschaftskritik wirkt dies sehr klischeehaft. Hunderttausende mit der politischen Opposition gegen die Mullahs verbundene Iraner:innen emigrierten seit 1979 in die USA. Viele von ihnen gut ausgebildet, einige sehr wohlhabend, an religiös-mystischen Konstruktionen wenig interessiert. Den Abschuss des iranischen Passagierflugzeugs über dem Persischen Golf während des Irak-Iran-Krieges bezeichnete die US-Regierung als tragischen Unfall. 290 Menschen starben. USA und Iran einigten sich vor dem Internationalen Gerichtshof 1996 auf eine Entschädigung von 61,8 Millionen US-Dollar. Anders als etwa die Russische Föderation für den Abschuss von MH 17 mit 298 Toten am 17. Juli 2014 über der Ostukraine gestand sie ihre Schuld ein.
Kaveh Akbars Debütroman ist dort stark, wo er von seinem tatsächlichen Erfahrungshintergrund ausgehen kann. Aber schwach, wo er Rassismus als abstrakte Welterklärungsformel einsetzt.
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