: 100 + 10 Armenische Allegorien
Die Theaterintendantin Shermin Langhoff macht das Thema des armenischen Völkermords mit einer Festivalreihe in Berlin sichtbar. Sie bringt es auch aufs taz lab
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Von Tigran Petrosyan
Der 24. April 2025 markiert den 110. Jahrestag des Völkermords an den Armenier:innen im Osmanischen Reich, eines der schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Doch trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen sind, hat die Welt wenig aus dieser Geschichte gelernt.
Die erneute Eskalation des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach im Jahr 2020, Hungerblockaden und Vertreibung in den Folgejahren haben die traumatischen Erinnerungen an das Massaker von 1915 für viele Armenier:innen wieder lebendig gemacht. Erneut fühlen sie sich in ihrer Existenz bedroht.
Das Thema des Völkermords an den Armenier:innen ist auch für Deutschland relevant. Als Ort der Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Geschichte spielt es eine wichtige Rolle. In gewissem Maße trägt Deutschland nämlich auch eine Mitverantwortung für die Geschehnisse vor 110 Jahren, da es während des Ersten Weltkriegs mit dem Osmanischen Reich verbündet war.Die Beweise für den Genozid sind ebenso belegt wie die deutsche Komplizenschaft bei diesem Verbrechen.
Wie kann man sich mit dem historischen Trauma eines Genozids auseinandersetzten, ohne lediglich in einer 110-jährigen Empörung stehenzubleiben?
Zum Beispiel mit Kunst. Am Maxim Gorki Theater in Berlin machen armenische Künstler:innen aus der ganzen Welt das Thema sichtbar – in Bildern, in Filmen, in Theaterstücken und in der Musik. Das Theater präsentiert vom 24. April bis zum 30 Mai 2025 beim Festival „100 + 10 – Armenian Allegories“ eine Ausstellung mit über 40 Werken, eine Literatur- und Filmreihe, Konzerte, Uraufführungen, Performances sowie Gastspiele aus Amsterdam, Jerewan, Istanbul und Göteborg.
Zwar erzählen die Regisseur:innen, Fotograf:innen und Schauspieler:innen die dunkle Geschichte des Völkermords, aber sie blicken auch nach vorn: Eine Performance setzt sich mit den sozialen und historischen Umständen der armenischen postsowjetischen Ära auseinander, die von Armut, psychischen Belastungen und einer zerfallenden Infrastruktur geprägt ist. In einer Tanzperformance wird eine Geschichte erzählt, die den Kampf, die Entfremdung und die Hoffnung der Armenier:innen thematisiert. Ein Stand-up-Programm beleuchtet das Leben eines politischen Exilanten in Deutschland – zwischen Bürokratie, Identität und weiteren Herausforderungen. Ein Film erzählt die Geschichte eines Völkermord-Überlebenden, der bei seiner Repatriierung aus den USA nach Armenien 1948 von Stalins Regime inhaftiert wird.
Im Rahmen der Literaturreihe „Meine Seele im Exil“ kommen literarische Stimmen aus Armenien und der Diaspora ins Gespräch mit jenen der Berliner Literaturszene. Auch der Krieg um Bergkarabach bildet einen Schwerpunkt. Wie kann man schreiben, wenn zur selben Zeit Bomben einschlagen, und wie angesichts des Schreckens nicht den Blick für die Kunst verlieren? „Es ist ein Wunder, dass mitten in all dem verheerenden Geschehen Kunst entstehen kann. Texte, Bilder, Performances, die zeigen, wie Menschen auf die tödlichen Angriffe reagieren“, sagt Shermin Langhoff. Die Theaterintendantin hat das Festival ins Leben gerufen.
Auf dem taz lab gehen Shermin Langhoff und die Kuratorin Anahit Bagradjans der Frage nach, welche Wege es gibt, trotz Wut und Schmerz, eine Haltung des Handelns und der Aufklärung einzunehmen. Wie können Theater und Literatur – trotz Krieg und Krisen – Solidarität und Dialog in der postmigrantischen Gesellschaft fördern, auch wenn politische Gräben tief sind? „Die Versuchung, die Hoffnung aufzugeben, ist riesig“, so Langhoff. „Sie gibt sich aus als die Stimme der Vernunft. In Wahrheit aber spielt sie den Diktatoren dieser Welt in die Hände, die uns die Hoffnung nehmen wollen – auf ihren Sturz. Die Geschichte lehrt uns eines Besseren“.
Mehr dazu erzählen Shermin Langhoff und Anahit Bagradjans auf dem taz lab.
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