: Entscheidung am Hindukusch
POLITIK In Afghanistan wird gewählt, ein Drama um Leben und Tod. Die Bundestagswahl in Deutschland? Bloß kleinkariertes Kammerspiel
■ Wahlen: 17 Millionen AfghanInnen sind für die Wahl am nächsten Donnerstag registriert, 41 Kandidaten wollen Präsident werden. Darunter viele Warlords. Doch in Afghanistan geht es weniger um die Inhalte, es geht ums Prinzip: die Demokratie – egal wer die Wahlen gewinnt.
■ Gewalt: Die Zahl der Anschläge steigt, je näher der Wahltermin rückt. Durch Terror wollen die Taliban die Beteiligung der Bürger verhindern. Die Gefährdung der Demokratie ist ernst zu nehmen. Die USA, EU und Co wollen durch Geld und Militär die Wahl unterstützen – egal wer die Wahlen gewinnt.
VON ULRIKE WINKELMANN
Am Donnerstag, dem 20. August, wird in Afghanistan gewählt. Es ist keine Wahl, bei der es nur darum geht, ob eine Kanzlerin sich zu Meinungsäußerungen bequemt oder ein Außenminister zündende Pressekonferenzen halten kann. Es ist eine Wahl, für die seit Monaten Menschen sterben müssen. Die Gegner einer afghanischen Demokratie tun alles, damit diese Wahl zu einem grausamen Schauspiel der Sinnlosigkeit wird. Provinz für Provinz, Distrikt für Distrikt versuchen die US-amerikanischen, Nato- und afghanischen Truppen nun den Taliban und deren Verbündeten zu entreißen.
Den Erfolg wünschen
Ob die Anwesenheit des Westens im Land ursächlich ist für diesen Wahlkampf der ganz anderen Art, ist dabei eine Frage, die sich für viele junge Afghanen gar nicht zu stellen scheint. Zum Beispiel für die Ingenieursklasse der Afghanischen Technik- und Berufsschule sind Wahlen das, was sie eigentlich ja auch sein sollten: eine afghanische Angelegenheit.
Jamshed ist sichtlich keiner, der sich lange bitten lässt. Der 19-Jährige springt auf, zieht sein eng tailliertes Lederwestchen überm T-Shirt mit Graffiti-Muster straff und sagt strahlend: „Lassen Sie uns über Politik reden. Doktor Abdullah ist ein kluger Mensch. Karsai hat Afghanistan überhaupt nicht weitergebracht, er hat bloß seine Taschen gefüllt.“
Die jungen Frauen in der ersten Reihe der Berufsschulklasse in Kabul grinsen milde über den Auftritt ihres Mitschülers, den sie offenbar nicht anders kennen als provokant und selbstbewusst. Beheshda allerdings sieht bald aus, als müsse sie platzen. Sie steckt mehrere unsichtbare Haarsträhnen unters Kopftuch und bittet den Lehrer, für die westlichen Journalisten zu übersetzen. Ihr Englisch sei nicht so gut wie das Jamsheds. „Ich möchte auch etwas sagen. Als Karsai vor acht Jahren an die Macht kam, gab es keine Redefreiheit, keine Arbeitsfreiheit. All das gibt es jetzt. Die Stadt wird wieder aufgebaut. Ich werde ihn wählen.“
Es geht dann noch hoch her, auch Tränen werden vergossen in dem etwas stickigen Klassenraum der Berufsschule. Der Lehrer kommt mit der Übersetzung ins Englische nicht mehr nach. Erregte Redeflüsse auf Dari strömen großenteils an den europäischen Gästen vorbei. Immerhin so viel wird klar: dass riesengroße Hoffnungen auf riesengroße Enttäuschungen treffen und riesengroße Befürchtungen sich mit riesengroßer Erleichterung über das Erreichte mischen.
Wahlen, das Wort allein bedeutet in Afghanistan raumfüllende, ansteckende, natürlich widersprüchliche Gefühle. Auch der abgebrühteste Beobachter aus dem Westen kann nur mithoffen, dass bei allem Krieg, bei allem Horror durch Armut, Unbildung und Korruption es die große Mehrheit der 17 Millionen registrierten Wählerinnen und Wähler doch zu den Wahllokalen schafft. Die Zahl der Distrikte, in denen es den Taliban und Angeschlossenen gelingen könnte, dies zu verhindern, schwankt täglich, vielleicht sind es zehn Prozent. Fest steht, dass die Zahl der Todesopfer bis zum Wahltag wachsen wird. Gibt es zwei Wochen später eine Stichwahl, weil sich im ersten Wahlgang keiner der 41 Präsidentschaftskandidaten durchsetzt, wird die Gewalt sich fortsetzen, womöglich noch zunehmen.
Den Erfolg wünschen
Auch wer die Präsenz von USA und Konsorten in Afghanistan für die Eskalation verantwortlich macht und den Nato-Einsatz deshalb rundheraus ablehnt, muss den Afghanen bei ihren vom Westen assistierten und finanzierten Wahlen doch demokratischen Erfolg wünschen. Selbst wenn dabei bloß die Verlängerung von Hamid Karsais Präsidentschaft herauskommt. Selbst wenn Karsai, um sich die Verlängerung der Macht zu sichern, Kriegsfürsten wie Kasim Fahim hohe und höchste Ämter versprochen hat. So unzufrieden auch seine Förderer im Westen inzwischen mit Karsai sind – keiner kann sagen, welches der afghanischen Stammes-, Clan- oder Milizen-Häupter bessere Arbeit gemacht hätte oder machen würde.
Was für ein schäbiges, kleinkariertes Kammerspiel bietet der deutsche Wahlkampf im Vergleich zum Drama der Demokratie in Afghanistan! Gegenüber den Journalisten jammern die Vertreter insbesondere der Volksparteien gern, dass die Wähler sich ja auch gar nicht mehr fürs große Ganze interessierten – wer wollte noch etwas von Teilhabe, Staatsfinanzen und Sozialsystemen hören? Wobei Minister, die das Gesetzeschreiben gleich den Lobbyisten und deren angeschlossenen Anwaltskanzleien überlassen, sich offenbar selbst auch nicht dafür interessieren.
Politik, Medien, Wähler reichen sich erneut den Vorwurf in die Runde, an der Demokratie nicht mehr mitzuwirken und sie dadurch zu ruinieren. Dabei wäre ganz aktuell schon viel geholfen, wenn zum Beispiel die CDU offen erklären würde, was sie mit einer schwarzgelben Regierung in Sachen Arbeit, Gesundheit und Co zu tun gedenkt. Oder wenn jemand diese Fragen so lange und laut stellen würde, bis das Ausbleiben der Antworten auffällt.
Keiner der wohlfeil über die demokratiesatten deutschen Wähler seufzenden Meinungsführer scheint es selbst als Glück oder Gnade zu begreifen, dass man sich hierzulande in der Tat über Feinheiten von Steuer- und Sozialsystemen streiten kann und nicht bis zum Wahltag immer nur weiter tote Polizisten und Wahlhelfer zählen muss. Die komplette Inhaltsleere des hier laufenden Wahlkampfs jedoch macht selbst aus sonst fröhlichen politischen Gemütern biestige Zyniker.
Gegenüber den afghanischen Wahlen ist Zynismus dagegen schlicht keine angemessene Haltung – erst recht nicht von der Warte des deutschen Sofas. Sie sind seit fünf Jahren der erste kollektive Verständigungsakt der Afghanen darüber, dass Frieden möglich sein muss. Das ist viel mehr, als in einen deutschen Leitartikel hineinpasst. Die Wahlen werden vielleicht keines der überwältigenden Probleme in Afghanistan lösen. Doch wenn ein zu großer Anteil der Menschen aus Angst vor Angriffen zuhaus bleibt, werden alle diese Probleme nur noch größer.