Beredte Stoffbahnen

AUSSTELLUNG Judith Raum ist nicht nur Künstlerin, sondern auch Geisteswissenschaftlerin. Eine Konsequenz: Ihre Arbeiten wollen ausdrücklich auch belehren. Im Kunstverein Langenhagen widmet sie sich jetzt dem deutschen Wirtschaftskolonialismus zur Kaiserzeit

In „Lecture Performances“ erwecken Projektionen, Archivmaterial und eingesprochene Tondokumente die Objekte zum Leben

„Moderne Volkswirtschaften brauchen ‚geplante‘ leistungsfähige Transportsysteme. Heute ist ein leistungsfähiges Verkehrssystem die Voraussetzung, dass Volkswirtschaften wachsen und sich eine Gesellschaft entwickeln kann. Ein attraktiver spurgebundener Verkehr ist für die Metropolen dieser Welt unabdingbar“: Mit diesen Worten wirbt der Stahl- und Technologiekonzern Thyssen-Krupp zurzeit im Internet für das hierzulande vorerst gescheitere Transrapid-System. Dass die Interessen der deutschen Wirtschaft wiederum zur Not auch am Hindukusch verteidigt werden müssen, ist eine Wahrheit, selbst wenn es sich nicht anschickt, sie in der Tagespolitik zu äußern.

Kaisers Infrastruktur

Die studierte Künstlerin und Geisteswissenschaftlerin Judith Raum geht seit 2008 in ihren Projekten einem mittlerweile in Vergessenheit geratenen geostrategischen Infrastrukturprojekt des Deutschen Kaiserreichs nach: der Bagdad-Bahn zwischen Istanbul – vormals Konstantinopel – und dem Irak. Nach Stationen in Dublin und Istanbul ist nun im Kunstverein Langenhagen zum ersten Mal in einer deutschen Einzelausstellung die komplexe Arbeit Judith Raums zu sehen.

Raum, 1977 geboren und aufgewachsen im fränkischen Helmbrechts bei Hof, stieß dort auf alte Musterbücher vorindustrieller Heimweber. Die Muster ließen sie nicht wieder los, denn sie umfassten Vorlagen für türkische Halstücher, indische Saris und sogar für peruanische Ponchos. Aber wie wurden diese offensichtlichen deutschen Exportschlager in die Zielländer geliefert?

Für den vorderen Orient ermöglichte dies die Bagdad-Bahn, die, nach Planung und Vorbereitung seit 1880, ab 1903 eine Länge von 1.600 Kilometern umfasste – mit Nebenstrecken waren es sogar mehr als 3.000 Kilometer. Die Deutsche Bank finanzierte die Baugesellschaft, an der deutsche Firmen maßgeblich beteiligt waren: die Philipp Holzmann AG für die Streckenarbeiten und Stationsgebäude, Friedrich Krupp für die Schienen, Borsig, Hanomag, Henschel, Maffei und andere für Lokomotiven und weitere Fahrzeugtechnik.

Zeitweise waren mehr als 35.000 Arbeiter am Bau der Bahn beschäftigt, sie campierten in Zelten entlang der Streckenabschnitte. Durch diese improvisierten, textilen Unterkünfte schließt sich für Judith Raum ein Kreis – zurück zu den textilen Ausgangsprodukten: Ausdrucksformen, die mit Stoffbahnen operieren, wurden ihr zur Metapher für die performative Umsetzung der Erzählungen zur Bagdad-Bahn.

Wie die Künstlerin die Stoffbahnen herstellt, ist durchaus aufwändig: In rund 20 Arbeitsgängen werden sie, auf dem Boden ausgelegt, mit hochpigmentierten Tuschen manuell bedruckt. Zuvor wird der Stoff in seinen Teilbereichen unterschiedlich vorbehandelt oder durchnässt. So entstehen einerseits melierte, flirrende Muster, es tauchen aber immer wieder Hinweise auf die alten Vorlagen aus Helmbrechts auf. Die Stoffbemusterungen gliedern sich in blockartige Rapporte, die an manuelle Webvorgänge erinnern. Charakteristische Dreiecksornamente der alten Ponchos durchbrechen als regelmäßige Streifen die Farbbemalungen.

Die fertigen Stoffbahnen hängt Raum, ein wenig wie Zeltformationen, an ihren Aufführungsorten in archaisch-minimierte Stabwerke. In „Lecture Performances“ erwecken Projektionen, Archivmaterial und eingesprochene Tondokumenten wie auch Raums eigener Vortrag, die Objekte zum Leben. Dargestellt wird der Kulturaustausch entlang der Bahnstrecke, vor allem aber die wirtschaftskolonialen Expansionen des Deutschen Reichs in der Türkei.

Geschichte sinnlich erzählt

Zur 40-minütigen Eröffnungsperformance in Langenhagen erschienen jetzt mehr als 60 Besucher – und das trotz des „elaborierten Themas“, so Leiterin Ursula Schöndeling. Raums sinnliche Form erzählender Geschichte sieht der Kunstverein aber auch als ganz persönliches Schlaglicht im laufenden Programm des 700-jährigen Jubiläums des Städtchens Langenhagen.  BETTINA MARIA BROSOWSKY

Judith Raum, „L’Inspecteur des Cultures“: bis 8. April, Kunstverein Langenhagen