Globalisierung in der Nordsee

Die Erwärmung der Nordsee hat Folgen: Zunehmend werden heimische Tierarten von Einwanderern verdrängt. Zwar steigt die Artenvielfalt in der Nordsee, aber bedingt durch die höhere Wassertemperatur wird es künftig auch mehr Sturmfluten geben

Jetzt aber macht sich die Schnecke in hoher Anzahl auf den Muschelbänken breit

VON GISELA SONNENBURG

Wer gebannt auf die Nordsee starrt, aufs scheinbar ewige Auf und Nieder der Wellen, mag es kaum glauben. Aber die Nordsee ist ein relativ junges Meer. Erst gen Ende der letzten Eiszeit vor rund 6.000 Jahren sammelte sich dort in dem Becken das Wasser – der Rest war Gletscher.

Für Wissenschaftler ist die Jugendlichkeit des Meeres an Flora und Fauna noch heute zu erkennen. Denn: „Das Ökosystem der Nordsee hat noch Nischen, sozusagen Planstellen, frei“, sagt Professor Heinz-Dieter Franke von der Biologischen Anstalt Helgoland: „Die Nordsee ist noch nicht gesättigt.“ Hungriges Meer, das romantische Klischee stimmt also in diesem Sinn.

Die aktuellen Vorgänge im Wattenmeer sind allerdings weniger romantisch. Sie sind bestimmt von der sich seit Jahrzehnten anbahnenden Erwärmung des Meereswassers. Fatal daran: Sie ereignet sich immer schneller, bedingt durch vom Menschen bewirkte Ursachen wie den Treibhauseffekt. So ist in den letzten 40 Jahren ein durchschnittlicher Anstieg der Wintertemperatur des Nordseewassers von 1,1 Grad Celsius zu verzeichnen. Nur ein Grad – aber eines mit Folgen.

Zum Vergleich: Bei der letzten Eiszeit war die Durchschnittstemperatur nur um 3 bis 4 Grad kälter als heute. Und was die Nordsee betrifft, so erwarten die Klimaforscher eine weitere Erwärmung um satte 2 Grad in den nächsten 25 Jahren. Eine Entwicklung, die jetzt schon zu beobachten ist, wird sich fortsetzen: Die neuen Verhältnisse begünstigen andere Lebewesen als die bisher ansässigen.

„Die Veränderungen reichen von Einzellern über kleine Krebse bis hin zu Fischen“, weiß Franke. So gibt es mittlerweile den Streifenbarben in großen Schwärmen vor der Küste Helgolands: einen ursprünglich mediterranen Fisch. Der Kabeljau hingegen ist aus der Nordsee praktisch verschwunden, was nicht nur an der Überfischung, sondern auch am Klimawandel liegt: Kabeljau braucht zum Laichen im Winter Temperaturen unter 4 Grad. Bei 4 bis 5 Grad noch im kältesten Monat, dem Februar, hat er dazu in der Nordsee keine Chance mehr.

Eine dramatische Entwicklung spielt sich auch auf den Muschelbänken ab: Hier verdrängt und überwuchert die Pazifische Auster die heimische Miesmuschel. Angesiedelt wurde die Pazifische Auster als Ersatz für die ausgestorbene Europäische Auster schon vor 25 Jahren: für Gourmets – in speziellen Zuchtgebieten. Doch der Neuling wildert seit neuestem erfolgreich aus: Er profitiert bei der Vermehrung vom wärmeren Wasser.

Bis zu 18 Grad im Mittel hat im August das Seewasser – nicht gerade nordseekalt. Der schon vor 80 Jahren durch Schiffe und Treibgut eingeschleppten Amerikanischen Pantoffelschnecke nützt diese Wärme ebenfalls. Ihr Bestand wurde früher von den harten europäischen Wintern regelmäßig dezimiert, sie galt im Wattenmeer als Seltenheit. Jetzt aber macht sich die Schnecke in hoher Anzahl auf den Muschelbänken breit – wieder sind die Miesmuscheln die Verlierer.

Deutliche Veränderungen gibt es auch im Bereich der Pflanzen. Manche Algen verschwanden ganz, andere nahmen zu. Und: Die Kieselalge, die als Basis des Nahrungssystems im Nordmeer gilt und die sich explosionsartig im Frühjahr vermehrt, blüht jetzt verspätet. Das hat unabsehbare Auswirkungen – unter Umständen auf das gesamte Ökosystem.

Der Grund für die späte Kieselalgenblüte liegt zwar nicht direkt im Temperaturanstieg. Aber in dessen Begünstigung der Fressfeinde der Alge: In dem jetzt mildem Herbst und Winter nagen Kleinkrebse mit unverminderter, sozusagen sommerlicher Aktivität am Algenteppich. Der ist dann so stark abgefressen, dass die Regenerierung der Pflanzen für die Vermehrung einige Zeit benötigt. Frankes Mitarbeiterin Karen Wiltshire fand das heraus – und sie beobachtet auch, dass Larven, die vor der Algenblüte schlüpfen, neuerdings nicht mehr genügend Nahrung haben. Denn ihre biologische Uhr hat sich nicht synchron zur Algenblüte verzögert.

Was im Zuge der Evolution langsam entstand und einer Abstimmung der Natur mit sich selbst entspricht, wird jetzt durch nur 1 Grad Erwärmung völlig aus der Balance gebracht. Noch sind die Auswirkungen zwar keineswegs katastrophal. Franke, der von einer „biologischen Globalisierung der Arten“ spricht, konstatiert sogar Erfreuliches: „Die Artenvielfalt steigt durch dieses Phänomen an.“

Aber die Rückwirkungen des neuen Klimas haben drastischen Charakter. So steigt mit der Erwärmung der Wassermassen der Wasserspiegel – was dem Küstenschutz zu schaffen macht. Und zunehmende Windgeschwindigkeiten, die aufgrund der Erwärmung der nordatlantischen Meeresströme entstehen, werden zu immer heftigeren Sturmfluten führen. Wenn Inseln wie Sylt verstärkt Land ans Meer verlieren, ist auch das eine Folge der Meereserwärmung: von wegen „nur 1 Grad“.