: Weltreise im Jenseits
Totenkulten und Bestattungskulturen erforscht eine Ausstellung in Lübeck: Sie ist ein gutes Argument, der ethnologischen Sammlung endlich ein eigenes Haus zu geben
Von Friederike Grabitz
Der weiße Oldtimer-Mercedes stammt aus Ghana und ist ein Sarg. Solche Särge, etwa in der Form von Schiffen oder Tieren, lassen sich Angehörige der Ga-Adangme seit 50 Jahren für ihre Verstorbenen zimmern. Sie zeigen, was sie im Leben wichtig fanden. Der deutsche Mercedes-Benz ist besonders beliebt, „Mama Benz“ ist in Ghana auch ein geflügeltes Wort für eine erfolgreiche Business-Frau.
Der Leiter der Lübecker Sammlung für Kulturen der Welt, Lars Frühsorge, hat das Modell in Ghana für seine Sammlung zimmern lassen. Es wurde zum Herzstück einer Ausstellung, die gerade im Industriemuseum Herrenwyk im Lübecker Stadtteil Kücknitz gezeigt wird. Ihr Name: „Bestattungskulturen in Lübeck und der Welt – Vom Ruheort zum Coffin Dance“.
„Coffin Dance“ ist der Titel eines Musikvideos, in dem schick gekleidete Sargträger tanzen. Es ging 2020 während der Coronapandemie viral und war besonders bei Jugendlichen populär. Es wird auf einem Bildschirm neben dem Mercedes gezeigt. Den Service der „Dancing Pallbearers“ gibt es in Ghana tatsächlich, mindestens seit 2003.
„Sepulkralkultur“ klingt nach Friedhof, steinern-grau und traurig. Die Ausstellung zeigt, dass das in vielen Kulturen nicht so ist. Besonders in Mexiko ist der Tod so schrillbunt wie die tanzenden Skelette, die zum „Dia de los muertos“ Ende Oktober aufgestellt werden, oder die aztekisch-katholische „Santa Muerte“, Schutzheilige der LSBTIQ-Bewegung.
Die Ausstellung zieht Verbindungen zwischen den Kulturen, zum Beispiel durch den Umgang mit dem Element Wasser. Sie zeigt eines der „Seelenboote“, die die Iban auf Borneo für die Reise ihrer Verstorbenen ins Jenseits schnitzen. Neben dem Boot ist eine Urne ausgestellt, wie sie für Seebestattungen in der Lübecker Bucht benutzt wird. Sie ist eine Leihgabe eines Lübecker Bestatters, der norddeutsche Perspektiven zu der Ausstellung beisteuert, inklusive der hier wachsenden Nachfrage nach muslimischen Bestattungen. Im letzten Raum lädt ein Sarg zum Probeliegen ein.
Ausstellung „Vom Ruheort zum Coffin Dance – Bestattungskulturen in Lübeck und der Welt“, Industriemuseum Herrenwyk, Lübeck. Bis 23. 2.
Das Thema geht weit über Bestattungen hinaus. Im Eingangsbereich erzählt eine Lesung aus dem Tibetischen Totenbuch von den „Sechs Arten von Zwischenzuständen“ nach dem Tod. Eine Grab-Holzskulptur aus Afrika überrascht mit einer Darstellung des Sexualakts. Wahrscheinlich soll sie Verstorbenen den Weg in eine neue Inkarnation als Kind eines kopulierenden Paars zeigen.
In einer Vitrine liegt ein „Feng-Shui-Kompass“. Feng Shui wurde entwickelt, um den perfekten Ort für ein Grab zu finden, und erst später in der Architektur genutzt. „Das ist mein Lieblingsobjekt“, sagt Frühsorge. „Der Kompass zeigt, dass Tod auch immer ein Motor menschlicher Entwicklung war.“
Lars Frühsorge, Leiter der Sammlung „Kulturen der Welt“ in Lübeck
Die Ausstellung zu kuratieren, war für ihn ein Herzensprojekt. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Ethnologe mit Bestattungen und Jenseits-Konzepten. Die Auswahl aus den 30.000 Objekten der Sammlung dürfte schwierig gewesen sein. „Eine Herausforderung war, dass viele Objekte zum Thema in den Herkunftsgesellschaften Gefühle auslösen, weil sie beispielsweise als heilig gelten oder Verstorbene repräsentieren“, sagt er.
Das gilt für viele sakral aufgeladene Gegenstände der australischen Aborigines. Eine Ibeji-Zwillingsskulptur der nigerianischen Yoruba kann nur deshalb ausgestellt werden, weil sie nie verwendet wurde. Stirbt in einer Yoruba-Familie ein Zwillingskind, wird eine solche Figur (oder auch eine Barbie-Puppe) stellvertretend wie ein echtes Kind versorgt. Sie enthält einen Teil der Seele der oder des Verstorbenen.
Mit nur wenigen Dutzend Exponaten ist es gelungen, in den kleinen Räumen eine Erzählung zu gestalten, die interessant, abwechslungsreich und nicht überfrachtet ist. Damit konnten viel mehr Gäste als erwartet an den abgelegenen Ort gelockt werden, „auch sehr viele junge Menschen“, sagt Frühsorge. „80 Prozent der Besuchenden waren unter 50 Jahre alt, darunter viele Jugendliche. Das haben wir bei dem Thema nicht erwartet.“
Das ist ein gutes Argument, der wertvollen Sammlung eigene Räume in der Stadt zu geben. Schon 2018/2019 sprach sich eine Mehrheit der KommunalpolitikerInnen dafür aus. Passiert ist seitdem nichts. In einer Art Diaspora ist die Sammlung in anderen Museen zu Gast. So kommt es, dass nun Särge und hinduistische Tempelbilder neben Interieurs von Hochofen-ArbeiterInnen vor hundert Jahren gezeigt werden.
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