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Die Wahrnehmung von Musik verändern

Mit seiner Band Reynols macht der argentinische Musiker Alan Courtis experimentellen Rock. Daneben gibt er Workshops zu inklusiven Perspektiven in der Musik, auch beim Festival CTM

Alan Courtis Foto: Nora Lezano

Von Yelizaveta Landenberger

Wie viele Platten er schon aufgenommen hat, das kann Alan Courtis nicht sagen. Wahrscheinlich seien es inzwischen um die 500 oder gar 600, die der 52-jährige Musiker aus Buenos Aires bei diversen Indie-Labels weltweit veröffentlicht hat – solo, unter seinem Künstlernamen Anla Courtis, mit seiner Hauptband Reynols und auch in Kooperation mit anderen Musiker:innen. Viele Improvisationen sind darunter, experimentelle Klänge, Drone, Noise, psychedelischer Rock.

Seine Rockband Reynols, die es seit 1993 gibt und die zunächst „Burt Reynols Ensemble“ hieß, ist Kult. Sie besteht aus Alan Courtis und Rob Conlazo an den Gitarren und Miguel Tomasín, der auch singt, am Schlagzeug. Tomasín hat das Down-Syndrom. Er improvisiert viel und verleiht mit seiner Stimme den Stücken der Reynols, die häufig psychedelisch klingen, aber auch mal elektronisch sind oder als Sound Art ins Abstrakte rücken, einen unverwechselbaren Charakter.

Alan Courtis unterrichtet neben seiner eigenen musikalischen Tätigkeit auch viel, aktuell am Conservatorio Municipal „Astor Piazzolla“ in der argentinischen Hauptstadt einen Kurs zu Improvisation und an der dortigen Musikhochschule schon seit Jahren einen Workshop für Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen. Es sei das erste Mal, dass die Musikhochschule so etwas anbiete, sagt Courtis der taz im Gespräch. Das Format dieses Kurses sei sehr offen. Manche Teilnehmenden beherrschen Musikinstrumente, aber eine formale Musikausbildung sei keineswegs Voraussetzung. Er entwickle seine Übungen stets in Abhängigkeit von der Zusammensetzung der Gruppe: „Wir benutzen Elektronik, wir singen. Und wenn es nötig ist, entwerfen wir sogar Instrumente oder basteln etwas. Es ist wichtig zu verstehen, dass Menschen mit verschiedenen Behinderungen – ich setze es in Anführungszeichen – in erster Linie Menschen, Personen sind. Partizipation ist ihr gutes Recht, denn sie sind Teil, und sogar ein ziemlich großer Teil der Gesellschaft. Wir sprechen von 10 bis 15 Prozent oder so, was eine Menge ist.“

Man merkt, dass Inklusion Alan Courtis am Herzen liegt, und dass er andere von der Wichtigkeit, inklusive Räume zu schaffen, überzeugen will. Dazu inspiriert ihn die lange und intensive Zusammenarbeit mit dem Drummer seiner Band, Miguel Tomasín. Alles begann, als Tomasín Courtis und Conlazo, die damals als Musiklehrer arbeiteten, um Schlagzeugunterricht bat. „Er hat Unterricht bekommen, und schließlich schlugen wir ihm vor, in der Band mitzumachen – eine sehr offene Rockband, mit viel Improvisation“, berichtet Courtis, „und da merkten wir, dass Miguel sehr viel Talent hat. Er fügte unserer Musik etwas ganz Besonderes hinzu. Und er hat unsere Wahrnehmung von Musik verändert.“ Er und Conlazo seien damals auf der Suche nach interessanter Musik gewesen, dabei hatten sie zunächst überhaupt keine Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Down-Syndrom. Ihr Konzept kristallisierte sich schnell heraus: „Wir wollen, dass Miguel sich frei fühlt und tun kann, was immer er tun will. Und wir gehen mit. Das trainieren wir nun schon seit mehr als 30 Jahren.“ Und damit sind sie erfolgreich – 2022 schafften es die Reynols sogar auf das Cover des Musikmagazins Wire.

„Ich glaube, wir versagen als Gesellschaft bei der Inklusion vieler Menschen mit Behinderungen“

Alan Courtis, Musiker

Beim diesjährigen CTM-Festival in Berlin, das heute startet, wird Alan Courtis einen Workshop zu inklusiven Perspektiven in der Musik geben. Die etwa dreistündige Veranstaltung wird am 1. Februar im Morphine-Raum stattfinden und auch einen praktischen Teil beinhalten. Courtis erklärt, worum es ihm bei der Inklusion geht: darum, Wege zu finden, um Personen mit Einschränkungen das Gefühl zu geben, dass die Gesellschaft ihnen interessante Orte bietet, an denen sie sich als Personen entwickeln können. Das sei in vielen Fällen bisher nicht der Fall: „Ich glaube, wir versagen als Gesellschaft bei der Inklusion vieler Menschen mit verschiedenen Behinderungen. Wenn man nur das Klavier oder die Geige hat, dann sind die Möglichkeiten begrenzt. Aber wenn man all diese neuen Techniken hinzufügt, Aufnahmen, Geräusche, Objekte, angepasste Instrumente, gibt es viel mehr Möglichkeiten, jeden einzubeziehen.“

Courtis findet, dass es noch viel zu tun gibt, um die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in verschiedene kulturelle Aktivitäten zu erweitern. Aber auch musikalisch hat er große Pläne für dieses Jahr: Ein neues Soloalbum werde bald in Japan erscheinen. Auch einige Kollaborationen mit Freunden stehen an – dieses Jahr „noch mindestens fünf oder sechs weitere Platten mit verschiedenen Projekten“, darunter auch ein neues Album der Reynols.

Alan Courtis bei der CTM: „Music & Dis/ability: Inclusive Perspectives“. Morphine-Raum, 1. 2., 14 Uhr

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