: Welt im Aufruhr ohne Filter
Immer mehr Nutzer ziehen sich aus sozialen Medien zurück. Aber was bloß sollen sie mit ihrer Zeit anfangen?
Von Christian Bartel
„Wahrscheinlich werde ich vor Langeweile bald wieder Brot backen, so wie im Lockdown“, glaubt Andrea Gröllkamp und schielt sehnsüchtig nach ihrem Handy, das still und stumm auf dem Couchtisch liegt. Schon über eine Stunde ist vergangen, seit die Bauzeichnerin die Statusmeldungen und Mitteilungen auf ihrem Gerät gecheckt hat. Allerdings nur aus Gewohnheit, denn wie viele Nutzer hat die Mittvierzigerin ihre Accounts in den sozialen Netzwerken gelöscht, seit Meta-Chef Zuckerberg angekündigt hat, das Faktencheck-Programm für Facebook und Instagram einzustellen.
Auf Tiktok treibt sich niemand aus Gröllkamps Altersklasse herum, und Elon Musks Plattform X hat sie schon vor Monaten verlassen. „Wenn ich mich von autoritären Arschlöchern mit Omnipotenzfantasien anlügen lassen will, brauche ich kein Social Media, da kann ich auch eine Dating-App benutzen“, erklärt Gröllkamp, die hauptsächlich Urlaubsbilder und Privates geteilt hat. Doch diese soziale Funktion haben die Algorithmen mittlerweile eingeschränkt, hat sie beobachtet.
„Statt Meldungen von Freundinnen und Bekannten tauchen mittlerweile fast nur noch rechtsradikale Küchentipps in meiner Timeline auf“, präzisiert die tüchtige Bauzeichnerin ihre Kritik. Mit dieser Beobachtung steht sie nicht alleine da.
Viele Facebook-Nutzer beschweren sich über die anschwellende Flut von rechtslastigen Nostalgie-Seiten wie „Das waren noch Zeiten“ und „Oma Hiedler’s Rezepte“, in denen Schweinebraten mit brauner Soße, traditionelle Rollenbilder und migrantenfreie Freibäder abgefeiert werden.
„Wenn ich ungefragt Ratschläge unterlegt mit reaktionärem Untergangsraunen bekommen will, rufe ich meine Mutter an – die kann wenigstens kochen“, sagt Gröllkamp. Dennoch vermisst die langjährige Nutzerin die tägliche Onlinebeschäftigung mit den Leben der Anderen. „Mir fehlt mein Ritual. Ich habe jeden Morgen meinen Insta-Freundinnen beim Früh-Workout zugeschaut und mich wie Dreck gefühlt, weil ich noch im Bett lag. In der Mittagspause habe ich ihre Veggie-Bowls gelikt, während ich mir selber Weißmehldreck vom Discountbäcker reingewürgt habe. Und abends habe ich mir Selfies aus angesagten Clubs und teuren Restaurants angeschaut, während ich allein auf dem Sofa lümmelte. Aber immerhin hat dieser konstante Vergleichsdruck meinem Leben jahrelang Struktur gegeben. Woher soll ich denn jetzt wissen, wieso ich so scheiße bin?“
Ein ganz anderes Problem hat Torsten Meisner, der ebenfalls kürzlich den Netzwerkstecker gezogen hat. Der leicht übergewichtige Radsportler hat auf Instagram gern Touren geteilt, bei denen er verlässlich Bestzeiten erzielte. Die zahlreichen Fotos dort zeigen ihn stets im knappen Radlerdress, aber immer nur vom Nabel aufwärts. „Jetzt will sich unsere Radlertruppe analog auf der Piste treffen“, klagt Meisner, der seitdem verzweifelt dem behaupteten Fitnessgrad hinterhertrainiert.
Noch ärger hat es die beiden Endzwanziger Niklas und Marie getroffen, die sich unter dem trendigen Hashtag #vanlife ein Geschäftsmodell aufgebaut haben, das im Wesentlichen auf dem stillgelegten Westfalia-Camper von Niklas Eltern und exotischen Hintergründen aus dem Internet besteht. „Als ob wir uns leisten könnten, mit dem Wohnmobil bis nach Thailand zu gurken“, meint Marie augenrollend, während sie auf einem Dauercampingplatz bei Rösrath in NRW eine Asien-Story für die 20K-Follower auf ihrem Laptop zusammenschneidet. „Wenn die alle in die Realität abwandern, muss der Niklas wieder Gabelstapler fahren“, fürchtet die Nageldesignerin.
Aber verträgt unsere Gesellschaft so viel Wahrheit überhaupt noch? Können wir die Welt ohne die rosa Filter ertragen, die wir in sozialen Netzwerken über unsere Biografien legen? „Jenseits unserer Wahrnehmung ist nichts, Existenz ist kein Prädikat“, meint der Philosoph Jasper J. Jasper dazu, der ausweislich seiner Facebook-Profilinfo ein vielgefragter Vordenker ist, im analogen Leben jedoch als Packer arbeitet. Jasper wehrt sich gegen die „Diktatur des Faktischen“, weil man dort teure Überziehungsgebühren und Miete zahlen muss.
Onlinepsychologin Eletta Breinert rät Social-Media-Flüchtlingen immerhin vom kalten Entzug ab. „An die analoge Wirklichkeit muss man sich in kleinen Schritten herantasten“, meint sie. Derzeit betreut Breinert den Tiktok-Aussteiger Leon. Der 16-Jährige ist überzeugt, dass er nur in den Tanzvideos auf dem Bildschirm existiert. Sein analoges Ich hält er für einen bösen Dämonen, der aus einer X-Box entkommen ist.
Damit Leon sein Körpergefühl wiedererlangt, soll er im Auftrag seiner Therapeutin Computerspiele in der Wirklichkeit nachspielen. Gerade rast der Junge mit einem gestohlenen Wagen durch Los Angeles. „Hauptsache, Leon hampelt nicht mehr ständig vor dem Spiegel herum“, rechtfertigt Breinert die extrem teure Therapie.
Aber was soll die allgegenwärtigen Screens ersetzen? Mit einem massenhaften Rückzug aus sozialen Netzwerken würde eine riesige Freizeitlawine auf vollkommen unvorbereitete Gesellschaften zurollen. Es ist nicht einmal klar, ob genug Hobbys für die weltweit drei Milliarden Facebook-Nutzer zur Verfügung stünden. Nicht auszudenken, wenn sie alle zu basteln begönnen.
Durchschnittlich 20,8 Stunden pro Woche verbringt allein der oder die Deutsche in den Netzwerken. Was passiert, wenn so viel Lebenszeit unkontrolliert freigesetzt wird? Nicht nur für die Angehörigen eine Horrorvorstellung. Auch Parteien und Vereine fürchten, von Mitgliedern mit Gestaltungsanspruch überrannt zu werden. Dass sich „Millionen Knalltüten mit Tagesfreizeit“ womöglich politisch einbringen könnten, ist ein Worst-Case-Szenario, das auch EU-Digitalkommissarin Henna Virkkunen ernst nimmt.
Falls der Exodus anhält, will sie mit Mitteln des EU-Strukturfonds ein Überlaufbecken für Digitalflüchtlinge schaffen. Wer Instagram, Facebook und Tiktok aus Gewissensgründen den Rücken kehrt, soll Asylanspruch auf der Plattform „Euro-VZ“ haben, wo alle Teilnehmer von EU-Chefin Ursula von der Leyen persönlich willkommen gegruschelt werden.
Bis es soweit ist, will sich wenigstens Andrea Gröllkamp auf eigene Faust eine möglichst zeitraubende Freizeitbeschäftigung zu suchen. „Ich könnte Gobelins knüpfen, das soll unfassbar lange dauern.“
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