: Schussfahrt in den Bibelkreis
Der Spielfilm „Leben ist jetzt – The Real Life Guys“ erzählt ganz ohne Zwischentöne die Geschichte der Youtuber*innen Elisabeth, Philipp und Johannes Mickenbecker
Von Wilfried Hippen
War das wirklich so? Die Frage stellt sich immer dann, wenn in einem Spielfilm eine „wahre Geschichte“ erzählt wird. In den meisten Filmen muss man da den Filmemacher*innen vertrauen, und oft wird dieses Vertrauen dann enttäuscht. Aber es gibt Fälle, bei denen allgemein bekannt und nachprüfbar ist, ob ein Film das „reale Leben“ nacherzählt.
Bei „Leben ist jetzt – The Real Life Guys“ ist solch ein Realitäts-Check sehr einfach, denn die Geschichte der Zwillingsbrüder Philipp und Johannes Mickenbecker wurde schon vor diesem Film in anderen visuellen Medien mit höherem Realitätsanspruch erzählt. So gibt es etwa auf Youtube den Kanal „The Real Life Guys“, den die Zwillinge zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth gründeten, und der mit 1,87 Millionen Abonnent*innen immer noch sehr erfolgreich ist.
Die Geschichte der Familie wurde dann so dramatisch, dass zuerst eine Fernsehdokumentation der ARD und dann ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Philipp Mickenbecker – Real Life“ gedreht wurde, der 2023 in die Kinos kam. In „Leben ist jetzt …“ wird die Geschichte nun noch ausführlicher und von Anfang an nachgespielt.
Die drei Geschwister Mickenbecker stammten aus einer christlich orientierten Familie und sie zeichnete eine extreme Lebens- und Abenteuerlust aus. Die Zwillinge begaben sich gern in Extremsituationen, für die sie selbst Geräte und Fahrzeuge bastelten. Ihre Aktionen filmten sie dann und luden sie auf ihren Youtube-Kanal hoch. So tauchten sie in einem selbstgebauten Badewannen-U-Boot, eine andere Badewanne brachten sie zum Fliegen und aus den Artikeln in einem Baumarkt bastelten sie eine zehn Meter hohe Achterbahn. Mit 18 Jahren verunglückte Elisabeth tödlich bei einem Flugzeugabsturz. Philipp erkrankte an Lymphdrüsenkrebs und starb im Jahr 2021.
Die Geschichte ist also in den verschiedenen Medien gut dokumentiert. Das verpflichtet eine Nacherzählung im Spielfilm zu Authentizität. Auf vielen Ebenen gelingt dies auch. So gibt es etwa kaum Brüche zwischen den nachgestellten Aktionen und den Youtube-Bildern. Und mit den Zwillingen Richard und Anton Fuchs wurden zwei Hauptdarsteller gefunden, die einander nicht nur genauso ähnlich sehen wie Philipp und Johannes Mickenbecker. Sie strahlen auch eine ähnliche Lebensenergie aus wie die zwei. Johannes Mickenbecker war bei den Dreharbeiten dabei und auch dies ist wohl auch ein Grund für die beeindruckend wirklichkeitsgetreue Bildebene. Gedreht wurde im Jahr 2023 unter anderem an der niedersächsischen Nordseeküste in Wilhelmshaven, Wangerland, Jever, Horumersiel und Schillig. Regie führte die junge Filmemacherin Maria-Anna Westholzer, die 2021 mit der Kriminalkomödie „Heute stirbt hier Kainer“ in der ARD debütiere. Das Drehbuch schrieb die Bremer Autorin Lydna Bartnik, die zuvor für die Daily Soap „Rote Rosen“ gearbeitet hatte.
Doch nach den Dreharbeiten waren die Produktionsfirma und Mickenbecker nicht mit dem Resultat zufrieden. Sie engagierten deshalb mit Stefan Westerwelle einen routinierteren Regisseur. Westerwelle war dann für Nachdrehs und die Postproduktion verantwortlich, und man sieht oder hört es dem Film auch an, dass an ihm zwei unterschiedliche Persönlichkeiten im Regiestuhl gearbeitet haben: Viele Dialoge wurden in der Postproduktion mit anderen Texten nachsynchronisiert. So entsteht ein ungewollter Verfremdungseffekt: Mal sagen die Lippen der Darsteller*innen auf der Leinwand genau das, was man hört, aber dann sind einzelne Worte und oft auch ganze Sätze extrem asynchron.
Auffällig ist auch, dass der realen Geschichte eine effektive, aber eben kaum noch plausible Dramaturgie eingezogen wurde. Viele Vorkommnisse wurden so aus der tatsächlichen Chronologie gerissen, dass es im Film zu möglichst dramatischen Sequenzen kommt. Es gibt zum Beispiel gleich zwei Parallelmontagen, bei denen mit extremen Stimmungskontrasten gearbeitet wird: Johannes macht seine ersten sexuellen Erfahrungen in exakt dem filmischen Zeitraum, in dem Philipp darüber unterrichtet wird, dass seine Krankheit nach der Chemotherapie wieder ausgebrochen ist. Und in einer anderen Szene feiern die Brüder mit ihrem Team ausgelassen die erste Million Klicks auf Youtube, während das Ultraleichtflugzeug, in dem Schwester Elisabeth sitzt, abstürzt. Verdichtung ist auch subtiler möglich.
Aber von der Produktionsfirma und vom Verleih Paramount, der den Film jüngst in den Multiplexkinos anspielen ließ, war das offensichtlich nicht erwünscht. Stattdessen wurde er auf die Sehgewohnheiten des jugendlichen Publikums zugeschnitten. Dank rasanter Schnittfolge, plakativer Bildsprache und ununterbrochen knallender Musik läuft der Film ständig auf Volldampf. Zwischentöne zwischen manisch und tragisch gibt’s keine.
Zum Schluss hin erlebt der todkranke Philipp eine religiöse Erweckung. Er und der Film werden immer christlicher, man kann auch sagen: missionarischer. Dies wirkt mit pathetischen Bildern von isländischen Eislandschaften eher wie ein thematischer Bruch in einem Film, der nicht nur im Titel das hedonistische „Carpe diem“ propagiert.
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