: Wir in Nordrhein-Westfalen
Das Ende der sozialdemokratischen Herrschaft an Rhein und Ruhr muss nicht automatisch das Ende des „rheinischen“ Kapitalismus bedeuten. Aber was dann?Ein Essay von CHRISTIAN SEMLER
Wir befinden uns im Dortmunder Union-Gewerbehof, wo neben zahlreichen alternativen und sonstigen Kleinfirmen im 2. Stock auch die Heinrich-Böll-Stiftung residiert. Von deren Fensterfront fällt der Blick aufs idyllische, von Bäumen und Pflanzen gesäumte Hofgeviert. Wer hier seinen Geschäften nachgeht, käme nie auf die Idee, dass vor nicht mal dreißig Jahren die Labors der Hoesch-Hochofen AG an dieser Stelle arbeiteten und die Direktion des einstigen Stahlriesen quasi um die Ecke lag.
Alles vergangen, alles vorbei. Als ich Mitte der 70er Jahre unsere maoistische Zeitung an einem der Werkseingänge von Hoesch verkaufte, bot mir ein Arbeiter ein Geschäft an. Wenn du in zehn Jahren hier noch mit deinem Blatt stehst, werde ich es abonnieren. Geht in Ordnung, antwortete ich. Keiner von uns beiden war am Stichtag nach Ablauf der Frist zur Stelle. Denn das revolutionäre wie das Stahlunternehmen existierten nicht mehr.
Die Herzkammer der Sozialdemokratie
Herbert Wehner, der von sich selbst als einem der letzten Proleten in der SPD-Führung sprach, hat Dortmund einmal die Herzkammer der Sozialdemokratie genannt. Als er das sagte, war NRW noch Montana-Land, aber die Krise im Bergbau und in der Stahlerzeugung lief bereits. Wie in anderen Großstädten des Ruhrgebiets auch waren 50 Prozent plus bei Wahlen für die SPD noch standesgemäß. Heute ist Dortmund ein Zentrum der Informationstechnologie und anderer Dienstleistungen, von deren Existenz in den 70er Jahren noch niemand etwas ahnte. Und die SPD muss um das Amt des Oberbürgermeisters samt dazu gehöriger Job-Kette bangen. Im Moment hat sie wieder die Nase vorn – knapp.
Die SPD und NRW – eine Symbiose, die jetzt zerbricht, zerrieben unter dem Druck eines Strukturwandels, der mit den klassischen Industrien der Region auch dem klassischen Klientel der Partei den Garaus gemacht hat? Vorsicht! Die Vorherrschaft der Sozialdemokraten in NRW war keineswegs ein quasi natürliches Resultat der Vorherrschaft der Industriearbeiterschaft in der Region gewesen. Nach dem Krieg herrschte fast zwei Jahrzehnte lang die CDU mit ihrer starken linkskatholischen Prägung, die der NRW-SPD näher stand als der Führung der eigenen Partei unter dem Großbourgeois Adenauer. Die CDU dominierte nicht nur im Rheinland, nicht nur in den katholischen Teilen des östlichen Westfalen und des Niederrheins, sie war auch im Ruhrgebiet stark. Und dort fanden sich auch die Hochburgen der zweiten Rivalin, der KPD. Letztere wurde Opfer des Kalten Krieges wie der eigenen, sektiererischen Politik. Aber wieso hat die SPD die CDU vier Jahrzehnte lang vom Thron gestoßen?
Hierfür waren zwei Faktoren entscheidend. Zum einen gelang es der SPD, ausgehend von den sozialdemokratisch dominierten Kommunen, ein dichtes Netz zu weben, das die Betriebsräte, die Gewerkschaften einschließlich ihrer Vertreter in der mitbestimmten Montanindustrie, die Leitungen der Versorgungsbetriebe, die Wohlfahrtseinrichtungen und die kulturellen Institutionen umspannte. An den Knotenpunkten dieses Netzes saßen keine Ideologen, auch keine „Parteisoldaten“. In großer Zahl konnte die SPD Angehörige der späten HJ- und der Flakhelfer-Generation für sich gewinnen, die pragmatisch dachten und die das eigene Fortkommen und das Fortkommen der SPD in Einklang zu bringen wussten. Der zweite Faktor bestand in einem grundlegenden Wandel im Verhältnis zur katholischen Kirche und speziell zur christdemokratischen Konkurrenz. Der Satz „the winner takes it all“ galt nicht für die SPD in NRW. Sei‘s auf der Ebene der Kommunen, sei‘s in den Betrieben, überall winkte den Christdemokraten ihr Plätzchen. In den beiden Landschaftsverbänden, eine Art interkommunaler Schaltzentrale, wurde gemeinsam entschieden. Das Stichwort für diese Politik lautete Konsens innerhalb eines organisierten Interessengeflechts. Johannes Rau, in den 80er Jahren unter dem Namen „Barmer Ersatzkanzler“ bekannt und später Bundespräsident, hat diese Politik mit dem Slogan „Versöhnen statt spalten“ eine höhere Weihe zu geben versucht.
Nicht nur der Politikstil der SPD zielte in NRW auf Vermeidung von harten Kontroversen, das gleiche galt für die Inhalte der Politik selbst, wo schon in den 70er Jahren die Härten des Strukturwandels abgemildert, wo lange, abgesicherte Übergänge dem Kahlschlag vorgezogen wurden, wofür die lange Subventionsgeschichte des Steinkohleabbaus das Lehrbeispiel bildet. Freilich war eine solche Politik mit enormen Kosten verbunden, die heute selbst von einem Teil der neuen sozialdemokratischen Mittelstandsklientel nicht mehr getragen werden wollen.
Es waren diese neuen Mittelstandsschichten, die die SPD von NRW unter Heinz Kühn und Johannes Rau für die Partei gewann. Dieser Eroberungszug lief unter dem Banner einer Modernisierungsstrategie ab, eines technokratisch geprägten Fortschrittsbewußtseins, einer Planungseuphorie, die ein ursprünglich eher defensiv geprägtes NRW-Identitätsgefühl ins offensive „Wir in Nordrhein-Westfalen“ wandelte. Aber diese Eroberung hatte ihren Preis. Selbst in traditionellen Konzentrationspunkten der Arbeiterklasse dominieren seit den 80er Jahren im Funktionärskörper der SPD Angestellte und Beamte – aber jetzt mit Uni-Abschluss. Für den Wandel in der Mitgliedschaft liefert Essen schon Ende der 80er Jahre ein allerdings extremes Beispiel. Dort stellten die „neuen Mittelschichten“ 40 Prozent der Mitglieder während der Anteil der Arbeiter auf zwölf Prozent sank. Nicht typisch, aber ein Menetekel für die Parteiführung. Natürlich spiegeln sich hier auch die positiven Ergebnisse der sozialdemokratischen Schul- und Hochschulpolitik, aber die Zugehörigkeit zur neuen Akademikerschicht erwies sich allemal stärker als die traditionellen, familienbedingten Bindungen ans Arbeitermilieu. Damit aber auch die Bindungen an die SPD. Wo aber die Fortschrittsgläubigkeit der „neuen Mittelschichten“ durch ökologische Einsichten gebrochen oder modifiziert wurde, grasen heute die Grünen. Sie stehen zur SPD – fragt sich nur, wie lange.
Harter Brocken Hartz
Für die Sozialdemokraten in NRW hat sich die Sozialpolitik der Bundesregierung (Hartz I–IV) als harter Brocken erwiesen. Sie bricht einerseits mit der NRW-Politik der Abfederungen und der sanften Übergänge. Sie stößt mit ihrer Ideologie des „Förderns und Forderns“ diejenigen sozialdemokratischen Arbeiterschichten vor den Kopf, die die Schutzfunktion des Staates nach wie vor als politischen Ausdruck der Solidarität begreifen. Sie entfremdet die neuen Mittelschichten, die durch die Praxis belehrt werden, dass die Schröderschen „Reformen“ auch unter einem technokratischen Blickwinkel verfehlt sind, weil sie außer einem gigantischen Kostenaufwand nichts bringen. Franz Münteferings Attacken auf die „Auswüchse des Kapitalismus“ erweisen sich gerade im NRW-Wahlkampf als stumpfe Waffe. Denn im gleichen Atemzug versichert die Parteiführung, ihre Kritik werde, da programmatisch gemeint, ohne Folgen bleiben.
Ist also der sozialdemokratische Weg in NRW an seinem Ende angelangt, wird die NRW-CDU nach einem Wahlsieg auf die Merkelsche Linie abschwenken und dem „rheinischen“ Kapitalismus samt seinen integrativen Versprechen den Garaus machen? Wird der Kult der Kälte triumphieren? Daran sind Zweifel angebracht. Zwar predigt Rüttgers die Konfrontation und fordert radikale Schritte. Aber sind die Wähler der CDU in NRW nicht selbst Fleisch vom Fleisch einer Politik, die das Land zwei Generationen lang geprägt hat?