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Archiv-Artikel

Lieber einmal zu viel losgehen

Todesfall Jessica: „Sonderausschuss Vernachlässigte Kinder“ der Bürgerschaft befragt Jugendamtsleiter über ihr Vorgehen bei Kindeswohlgefährdung. Senatsbericht liegt noch nicht vor. SPD- und GAL-Abgeordnete unzufrieden mit „blumigen Antworten“

Von Kaija Kutter

Die erste Sitzung des „Sonderausschusses Vernachlässigte Kinder“ zum Hungertod der siebenjährigen Jessica begann nach Einschätzung der rot-grünen Opposition mit einem Affront. Auf der Senatsbank saßen nur „Praktiker“, wie Sozialbehördenstaatsrat Klaus Meister erklärte. Die beiden zuständigen Senatorinnen Birgit Schnieber-Jastram (CDU, Soziales) und Alexandra Dinges-Dierig (parteilos, Schule) dagegen glänzten durch Abwesenheit. Auch lag kein „Sachstandbericht“ darüber vor, was der Senat seit dem Tod des Mädchens am 1. März unternommen hatte. „Wir haben nichts bekommen“, monierte GAL-Fraktionschefin Christa Goetsch.

„Es gibt nichts Neues“, erwiderte Meister. Die vom Senat eingesetzte Arbeitsgruppe „Informierte Jugendhilfe“ habe noch bis zum 30. Juni Zeit, ihren Bericht abzuliefern. Diese Arbeitsgruppe der Justizbehörde soll klären, welche juristischen Möglichkeiten es gibt, um den Datenaustausch zwischen Ämtern und Institutionen so zu verbessern, dass nicht noch mal ein Kind übersehen wird.

Wüssten sie erst einmal von einer Kindeswohlgefährdung, würden ihre Mitarbeiter sofort handeln, erklärten der Wandsbeker Jugendamtsleiter Volker de Vries und seine Eimsbüttler Kollegin Monika Samtleben. „Wir gehen eher einmal zu viel los“, sagte Samtleben, die seit dem Tod von Jessica allein in Eimsbüttel über 30 neue Meldungen von Nachbarn zu berichten wusste. Allerdings habe sich davon nur ein Fall als „brisant“ erwiesen, und der sei bereits geklärt. Auch in Wandsbek gab es seither einen neuen Fall. Ein 14-Jähriger wurde in Obhut genommen, „weil seine Eltern ihn gar nicht zur Schule schickten“, berichtete de Vries, in dessen Verantwortungsbereich Jessica ums Leben kam.

Die Fragen von GAL und SPD, ob nicht das Jugendamt beispielsweise schon aktiv werden könne, wenn wie im Fall von Jessicas Mutter eine junge Sozialhilfeempfängerin ihr Kind nicht in eine Kita gibt, wurden von de Vries verneint. Diese Gruppe sollte nicht unter Generalverdacht gestellt werden: „Es gibt bei einigen den Ehrgeiz, in der Familie zu erziehen.“ Doch während bei Schulkindern den Lehrern Vernachlässigung auffällt, sind jüngere Kinder einem höheren Risiko ausgesetzt, das machte die Schulbehörde deutlich.

So werden zwar Kinder mit viereinhalb Jahren bei einer Schule vorgestellt, doch „das Feld der Kinder, denen es nicht gut geht, wird dort nicht abgeklärt“, erklärte Behördenjustiziar Andreas Gleim. Zudem fehlten für diese Altersgruppe den Behörden „die Ressourcen“, ergänzte Karin Limmer von der Schulberatungsstelle Rebus.

Rebus und auch die Jugendämter bekräftigten, ihre Zusammenarbeit sei „gut“. Da nach Jessicas Tod eine klare Dienstanweisung erlassen wurde, würden alle Fälle, in denen ein Kind der Schule fernbleibt, dem Jugendamt gemeldet. Wer denn dabei die „Federführung“ übernehme und ob bei der gegenseitigen Information die „Verantwortlichkeit verwässert“, wollte der CDU-Abgeordnete Dittmar Lemke wissen. Eine Skepsis, die Opposition und CDU offenbar eint.

So sprach auch Goetsch von „blumigen Aussagen“ der Jugendamtsleiter und forderte erneut eine „verbindliche Vernetzung“ sowie für Familien die „Aktenführung aus einer Hand“. SPD-Fraktionsvize Britta Ernst monierte gar, dass „zentralen Stellen das Problembewusstsein fehlt“, gebe es doch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine kleine, eingrenzbare Gruppe von jungen Eltern, die ihre Kinder „hart vernachlässigen“ und die auch von Jugendämtern durch ein „paar Indikatoren“ ausfindig gemacht werden könnte.

Zur nächsten Ausschusssitzung am 29. Juni wird deshalb der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel geladen. Er hatte diese Schlüsse Ende der 90er in einer Studie über die Todesursachen vernachlässigter Kinder gezogen.