berliner szenen: Es ist keine Frage des Alters
Ich stehe in der Schlange in der Post. Es ist der letzte Tag im Jahr, auf einem Bildschirm läuft Reklame für Weihnachtsbriefmarken. Gerade als ich denke, dass Weihnachten doch eigentlich längst vorbei sei, kommt eine alte Dame in die Filiale, in der Hand einen Brief. „Wo kann ich den denn einwerfen?“, fragt sie etwas unsicher. Ich gehe mit ihr in den Vorraum, dort gibt es einen in den Paketautomaten integrierten Briefkasten. Doch die Klappe lässt sich nicht öffnen. Wieder in der Filiale sehe ich erst: Direkt neben den Schaltern steht auf einer Ablage eine gelbe Postkiste mit dem Schild „Briefabgabe“. Ich zeige auf die Kiste und sage: „Schauen Sie, da können Sie ihn einfach rein tun.“ Die alte Dame macht unsicher ein paar Schritte nach vorn, dann sieht sie sich fragend um. Die Frau vor mir in der Schlange geht zu der alten Dame hin und sagt: „Kommen Sie, wir machen das zusammen.“
Ich bedanke mich bei ihr, als sie zurückkommt. Sie lächelt mich freundlich an und sagt: „Da sieht man doch mal, wie gut es ist, dass Menschen noch aufeinander achten und sich gegenseitig helfen können.“ Und schon kommt die nächste alte Dame, genauso verunsichert, mit einem Stapel Briefe.
„Man hätte draußen vielleicht einen Zettel dran machen können“, sage ich. „Das verwirrt doch ältere Menschen total.“ Der Briefkasten sei sicher wegen der Silvesterknaller gesperrt, meint die Frau, sie ist höchstens vierzig. Aber das mit dem Verwirrtsein, das sei keine Altersfrage. Sie selber sei auch oft verwirrt. „Heute ist doch alles immer so schnell und ändert sich dauernd.“ Ich bin plötzlich sehr froh, denn genau so geht es mir ständig. Und bis zu diesem Silvestervormittag hielt ich es für eine Alterserscheinung. Jetzt weiß ich: Ich bin nicht alleine. Und wenn ich doch mit irgendwas nicht klarkomme, kann ich ruhig andere um Hilfe bitten.
Gaby Coldewey
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