Erlebtes und Erträumtes

Bei „Schicksal“, einer Kooperation zwischen einem Jugend-, einem Studenten- und einem Gefangenentheater in der JVA Plötzensee, war das Theaterspiel beinahe das Unwichtigste

VON ESTHER SLEVOGT

Eine junge Frau im Hochzeitskleid steht auf einem Podest und schreit. Sie hat Wehen und kurz darauf bringt sie zwei Kinder zur Welt. Mühsam winden sie sich unter ihrem Rock hervor. Dann nimmt schon das Schicksal seinen Lauf: Einer von den beiden soll König werden und will aber nicht. Deshalb tritt das zweitgeborene Kind die Thronfolge an. Im vorliegenden Fall sind alle zufrieden. Doch das ist eher die Ausnahme, wenn das Schicksal die Regie übernommen hat.

Und genau darum ging es in diesem Theaterprojekt für Jugendliche, einer Kooperation zwischen dem Jugendtheaterclub der Schaubühne am Lehniner Platz „Die Zwiefachen“, dem Gefangenensemble der Jugendhaftanstalt Plötzensee „Aufbruch“ und dem Studententheaterclub des Carrousel Theaters und der Alice-Salomon-Fachhochschule. Was ist Schicksal? Inwieweit kann ich es selbst bestimmen? Oder bin ich ihm ausgeliefert? Die Antworten fielen so unterschiedlich wie die Herkunft der jugendlichen Spieler aus: Uta Plate vom Jugendtheaterclub der Schaubühne erarbeitet ihre Projekte mit sozial benachteiligten Jugendlichen, denen teilweise schon Theatererfahrung anzumerken ist. Das Gefangenenensemble „Aufbruch“ besteht aus jungen Männern, die in der Jugendstrafanstalt Plötzensee inhaftiert sind und von der Regisseurin Christina Emig-Könning für dieses Projekt gewonnen wurden. Der Studententheaterclub der Alice-Salomon-Fachhochschule setzt sich aus Studierenden aller Semester zusammen.

Es begann mit den leisen, poetischen Bildern der „Zwiefachen“, deren acht Spieler durch eine assoziative Szenenfolge surften, in der Erlebtes, Erdachtes und Erträumtes fragmentarisch ineinander flossen. Biografische Splitter lassen problematische Kindheits- und Jugendgeschichten aufblitzen: das Leben mit einer drogensüchtigen Mutter, die das Kind als von einem Dämon besessen erlebt. Mobbing in der Schule, weil der Schatten über der eigenen Kindheit einen zum Außenseiter macht. Aber auch Aufbegehren gegen das Benachteiligtsein, dem man mit Humor oder einfach der Fantasie dieser halbstündigen Improvisation begegnet. Mit minimalen Requisiten, ein paar Kleidern, einem Podest auf Rollen und weißen Plastikschnipseln, die immer wieder wie Schnee über die Szene rieseln, lernt man das Theaterspielen auch als Schule über die Kunst kennen, wie sich das Schicksal überlisten lässt. Dann ändert sich schlagartig die Atmosphäre im Saal. Zu den wummernden Klängen von Beethovens Neunter rutschen und springen zehn Spieler des Gefangenen-Ensembles in die Szene.

Plötzlich durchdringt fast der Geruch von Schweiß die eben noch so poetische Stimmung. Die Regisseurin Christina Emig-Könning lässt die Jugendlichen sehr bewusst ihre Körperlichkeit einsetzen, um daraus kraftvolle Bilder über Angst, Aggression, Sehnsucht nach Liebe und Wut über die eigene Situation zu choreografieren. Einer will raus aus der Welt des Bösen, dann stürzen sich die anderen auf ihn und man merkt: Leicht wird der Ausstieg nicht werden. Ein Junge namens Shine singt einen lyrischen Rap von seiner gescheiterten Liebe. Ein anderer tritt mit dem Charme eines Riesenbabys vor und wirft grinsend ins Publikum: „Deutschland sucht den Superknacki!“ Am Ende tragen die Spieler Fracks und Tiermasken und geben zum Besten, warum sie einsitzen müssen. Shine, der lyrische Rapper, hat zum Beispiel eine Tankstelle überfallen.

Leider lässt die Regisseurin sich manchmal zu sehr von ihren eigenen Fantasien statt von den Gedanken und Gefühlen der jungen Männer leiten. Sichtlich beeindruckt vom Ort und seiner Geschichte als Hinrichtungsstätte für Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus lässt sie ihre Spieler auf diese blutige Geschichte verweisen. Das hat den Effekt, dass es aussieht, als versuchten die jugendlichen Häftlinge, sich mit den in Plötzensee gehängten und guillotinierten Widerstandskämpfern auf eine Stufe zu stellen, was weder der Fall ist noch der Wahrheitsfindung in Sachen Schicksal dient. Die Jugendlichen selbst liefern eine souveräne Vorstellung ab. Den Jubel am Schluss haben alle sehr genossen.

Beschlossen wurde der Abend von den Studenten der Alice-Salomon-Schule. In ihren Variationen über das Schicksal kam das Schicksal selbst am wenigsten vor, weshalb man den Eindruck gewann, dass die meisten der jungen Leute vielleicht noch nicht ernsthaft mit ihm in Konflikt geraten sind. Hauptaugenmerk lag auf der berühmtesten Schicksalsfrage „Liebe“. Fast wurde dabei sogar richtig Theater gespielt. Dabei war das Richtig-Theater-Spielen an diesem Abend gar nicht das Wichtigste.

Weitere Vorstellungen: 20./24./25./27. Mai, 17.00 Uhr, JVA Plötzensee, Karten unter 4 40 04 97 00