Der Platz, der keinen überzeugt

Vom „Quarré“ zur guten Stube einer nach symbolischen Orten lechzenden Stadt: Mit der Akademie der Künste ist die Neubebauung des Pariser Platzes nahezu vollendet. Dabei verweist das Ergebnis einer merkwürdig konservativen Baupolitik auf die Ideen- und Mutlosigkeit der heutigen Gesellschaft

In all den Jahren blieb kein einziger Stein der ursprünglichen Bebauung erhalten Rundum überzeugt keiner der Bauten – am ehesten dann wohl doch die Akademie

VON OLIVER G. HAMM

Barocker Schmuckplatz mit zunächst bescheidenem Stadttor im 18. Jahrhundert. „Bürgersalon“, aber auch Schauplatz von Triumphzügen Napoleons und des preußischen Heers im 19. Jahrhundert. Aufmarschplatz der Nationalsozialisten ab 1933. Bühne des „Endkampfs“ um Berlin im Frühjahr 1945. Symbol zunächst für die Teilung, dann für die Wiedervereinigung. Heute so etwas wie die „gute Stube“ einer nach Bedeutung ringenden und nach symbolischen Orten lechzenden Hauptstadt. In 270 Jahren hat sich über den Pariser Platz mit seinem bekanntesten Bauwerk, dem Brandenburger Tor, Schicht um Schicht einer wechselvollen Geschichte gelegt.

In all den Jahren ist – in Berlin nicht eben ungewöhnlich – kein einziger Stein der ursprünglichen Bebauung erhalten geblieben. Lediglich die Platzfigur hat alle Erneuerungen, Zerstörungen und die Neubebauung nach der Wiedervereinigung überdauert. Mit der Vollendung der Akademie der Künste, die heute eröffnet wird, ist die Randbebauung nahezu vollständig wiederhergestellt – nur an der südwestlichen Ecke, an der kürzlich mit bauvorbereitenden Arbeiten für die künftige Botschaft der USA begonnen wurde, klafft noch eine Lücke, die einen Ausblick auf „das neue Berlin“ am Potsdamer Platz gewährt. Das neue Berlin? Repräsentiert nicht auch und vielleicht noch viel treffender der erneuerte Pariser Platz jene durch den Zufall der Geschichte wieder zur gesamtdeutschen Hauptstadt gewordene Metropole, die sich vor allem der Bilder einer längst untergegangenen, so viel glanzvolleren Epoche, des Kaiserreichs, und der „Roaring Twenties“ bedient? Und legt nicht das architektonische Ergebnis der merkwürdig konservativen Baupolitik des Senats beredtes Zeugnis ab von der Ideen- und Mutlosigkeit einer – der heutigen – Gesellschaft?

Eine Analyse des heutigen Platzes und seiner ihn formenden Bauten muss mit seiner Geschichte beginnen. Die reicht zurück bis ins Jahr 1734, als die bereits 1738 abgeschlossene Erweiterung von Friedrich- und Dorotheenstadt begann. Im Zuge der Ausdehnung des historischen Zentrums nach Westen entstanden drei auf geometrischen Grundformen basierende Torplätze: „Rondell“ (heute Mehringplatz), „Octogon“ (Leipziger Platz) und „Quarré“ (Pariser Platz). Letzterer diente als westlicher stadträumlicher Abschluss der Straße Unter den Linden und – wegen der ebenfalls zu jener Zeit errichteten Akzisemauer – als einzige Verbindung zum Tiergarten. In idealtypischer Weise verkörperte das „Quarré“ mit seiner strengen Raumgeometrie das auf Rationalität und Disziplin aufbauende Selbstverständnis der preußischen Baukunst des 18. Jahrhunderts, wie der Architekturhistoriker Wolfgang Schäche 1995 schrieb.

Von Anfang an war der Platz mit seiner geschlossenen Randbebauung gleichzeitig Pendant und Antipode des Schlossplatzes mit seiner offenen Raumkomposition am anderen Ende der Linden: hier bürgerlicher Salon, dort monarchistisches Zentrum. Die Ursprungsbebauung gab sich an beiden Enden der Linden vergleichsweise bescheiden; am Quarré bestand sie aus zweigeschossigen Palais und einem recht unauffälligen, im Maßstab angepassten Torbau. Doch schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es infolge des Bedeutungszuwachses der Linden und dem veränderten städtischen Repräsentationsbedürfnis zu einem ersten Maßstabssprung in der gewachsenen Residenzstadt. Für den Platz am westlichen Ende der Straße bedeutete der Bau des klassizistischen Brandenburger Tors nicht nur „den endgültigen Bruch mit dem späten friderizianischen Barock“ (Rolf Bothe), sondern auch den Auftakt zur fast vollständigen Erneuerung der Randbebauung durch drei- bis viergeschossige Palazzi, deren Traufhöhen sich an der Gesimslinie des Brandenburger Tors orientierten.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Pariser Platz (diesen Namen trägt er, aus Anlass des Sieges über Napoleon, seit 1814) neben dem Gendarmenmarkt zum städtebaulichen Juwel Berlins – und zum „Empfangssalon“ des Bürgertums. „Die Harmonie seiner […] Häuser, seine vornehme Geschlossenheit, die vorbildliche gärtnerische Anlage mit den einfachen Springbrunnen, die freie Mittelfläche – das alles schließt sich zu einem herrlichen Eindruck zusammen“, schrieb der Kunsthistoriker Max Osborn um die vorletzte Jahrhundertwende. Ganz anders hatte das übrigens Karl Friedrich Schinkel gesehen, der als führender preußischer Baumeister 1828 den Auftrag zum Umbau des südlichen Kopfbaus am Übergang zu den Linden (Palais Redern) übernommen hatte: Er beklagte nicht nur die „sehr hässlichen Mansardendächer“, sondern auch die – aus seiner Sicht unerfreuliche – Einförmigkeit der Bauten, bei der „jedermann sogleich das Gezwungene empfindet, den Besitzern von sehr verschiedenen Vermögens- und Berufsverhältnissen und überhaupt von verschiedener individueller Ansicht des Lebens eine so gleichartige Form der Wohnung aufzudringen“.

Ob Max Liebermann, von 1884 bis zu seinem Tod 1935 Bewohner des nördlichen Flügelbaus des Brandenburger Tors, Schinkels harschem Urteil über die Bebauung des Pariser Platzes zugestimmt hat, ist nicht bekannt. Er fühlte sich dort durchaus wohl und setzte gegen das Votum des Kaisers nicht nur den Aufbau eines Glasdaches (für sein Atelier) durch, sondern wehrte sich auch erfolgreich gegen den Abriss des Hauses, mit dem Wilhelm II. die Freistellung des Tores hatte erzwingen wollen. Auch die Königliche Akademie der Künste, der Liebermann 1920 bis 1932 als Präsident vorstand, zog es hierher: in das von Ernst von Ihne umgebaute Palais Arnim neben dem gleichfalls 1907 eröffneten Neubau des Hotels Adlon (von Carl Gause und Robert Leibnitz). Mit der Akademie, dem Luxushotel, später auch mit den Botschaften Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika sollte sich innerhalb weniger Jahrzehnte nach dem Maßstabssprung auch ein tief greifender Nutzungswechsel der Randbebauung des Pariser Platzes vollziehen.

Dreißig Jahre später musste die Akademie einen Teil, später das gesamte Gebäude räumen: Ab 1937 planten Albert Speer und sein umfangreicher Stab am Pariser Platz 4 den Ausbau Berlins zur „Welthauptstadt Germania“, und noch während des Kriegs traf sich dort der „Arbeitsstab Wiederaufbauplanung zerstörter Städte“. Der Krieg und der Mauerbau, dem u. a. die Ruinen des Vorderhauses der Akademie und des Hotels Adlon zum Opfer fielen, bedeuteten schließlich für nahezu die gesamte Bebauung des Pariser Platzes das Ende.

Für fast dreißig Jahre fiel der Platz, der nur noch für Wachsoldaten und die in den Ateliers der Akademie tätigen Künstler zugänglich war, in einen Dornröschenschlaf. Erst die Öffnung der Mauer, die hier erst am 22. Dezember 1989 geschah, eröffnete ihm eine neue Perspektive. Vielmehr Perspektiven, denn während die Wiederherstellung der annähernd quadratischen Platzfigur von Anfang an unstrittig war, wurden um die Freistellung bzw. bauliche Einbindung des Brandenburger Tors und später um die Architektur der elf neu zu bebauenden Parzellen heftige Debatten geführt.

Warum ausgerechnet der Pariser Platz bei den Diskussionen um das künftige Erscheinungsbild des zentralen (östlichen) Stadtbereichs und um eine angemessene Form seiner „kritischen Rekonstruktion“ eine so bedeutende Rolle spielte, ist heute erklärungsbedürftig. Anders als an vielen Orten im „zentralen Bereich“ mit hohem Entwicklungsdruck zu Beginn der Neunzigerjahre waren am Pariser Platz wesentliche Eckpfeiler der Planung von Anfang an konsensfähig. So stellte etwa neben Platzfigur und Bauhöhe niemand die künftige – eben die traditionelle – Nutzung der geplanten Bauten ernsthaft infrage: Botschaften, Akademie der Künste, Hotel Adlon und städtische Mischnutzungen. Der gewünschten Wiederaufnahme der Vorkriegsnutzungen kam zugute, dass – anders als in den meisten Bereichen der Friedrichstadt – die Parzellierung aufgrund der jahrzehntelangen Nichtnutzung des Areals unversehrt geblieben war.

Nicht konsensfähig war die Frage der Architektur. In einer Untersuchung für die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen vom September 1991 hatten Bernhard Strecker und Dieter Hoffmann-Axthelm noch geschrieben: „Die Ebene, auf der die Wiederherstellung des Berliner historischen Zentrums zu leisten ist, ist nicht die der historischen Bilder (historische Gebäude, Fassaden), es ist die der Stadtstruktur. […] Das Sichtbare, die Architektur, muss deshalb gerade nicht historisch, sondern modern sein.“ Und auch Hildebrand Machleidt, Walter Stepp und Wolfgang Schäche lehnten in einem Gutachten im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz im Januar 1992 „jedes Historisieren“ ab und forderten eine „zeitgemäße Architektursprache“. Dieser wurden jedoch mit der 1995 vom Senat beschlossenen „Textlichen Festsetzung zum Entwurf des Bebauungsplans I-200 Pariser Platz“ – kurz „Gestaltungssatzung“ –, die auf einem weiteren, von Senatsbaudirektor Hans Stimmann in Auftrag gegebenen und im September 1993 von Bruno Flierl und Walter Rolfes vorgelegten Gutachten basiert, enge Zügel angelegt.

Gegen die allzu stringenten Forderungen nach einheitlich um 90 bis 120 cm angehobenen Erdgeschossen, deutlich ausgebildeten Sockelzonen und steinernen Lochfassaden mit einem Öffnungsanteil von maximal 30 Prozent wehrte sich vor allem die Akademie der Künste, die befürchtete, dass diese Regelung „mittelmäßige und schlechte Architektur nicht verhindert, gute Architektur aber nicht fördert“. Indem die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen von ihrer Forderung nach einem Sockelgeschoss später wieder abrückte, den zulässigen Öffnungsanteil auf 49 Prozent erhöhte und erstmals auch liegende Fensterformate zuließ, die es nie zuvor am Pariser Platz gegeben hatte, ließ sie mittelmäßiger und schlechter Architektur noch mehr Bewegungsfreiheit als zuvor, wie man heute, da zehn der elf Neubauten errichtet sind, konstatieren muss.

Rundum überzeugen kann keiner der Bauten. Am ehesten dann wohl doch die Akademie der Künste, die mit ihren von Günter Behnisch und Werner Durth entworfenen fließenden Ebenen hinter der heftig umstrittenen Glasfassade geschickt kaschiert, was in fast allen anderen Häusern umso unangenehmer auffällt: dass nämlich in der Kubatur der Vorkriegsbauten jeweils ein Geschoss mehr untergebracht wurde, was insbesondere im Hotel Adlon (von Patzschke, Klotz & Partner) und in den beiden Torbauten (Josef Paul Kleihues) sehr unangenehme Raumproportionen zur Folge hat. Dass diesem Aspekt, wie auch der Rückseite des südlichen Baublocks am Pariser Platz – sie bildet die Platzwand des Holocaust-Mahnmals – in der „Gestaltungssatzung“ keinerlei Beachtung geschenkt wurde, ist unverzeihlich.

Andere Baumeister zündeten vor allem in der Tiefe der Baugrundstücke wahre Feuerwerke, so Frank Gehry mit seinem skulpturalen Konferenzraum inmitten der glasgedeckten Halle der DZ-Bank, Christian de Portzamparc mit seinem räumlichen Erlebnisparcours in der französischen Botschaft und von Gerkan, Marg und Partner mit ihrer runden, über alle Geschosse reichenden Halle der Dresdner Bank. Doch gerade ihnen mangelte es bei der Fassade, also der Platzwand des „Quarré“, an jener viel beschworenen Konsensfähigkeit, die – bedurfte es noch eines Beweises? – nicht einmal eine „Gestaltungssatzung“ zu erzwingen vermag. „Hier und nicht am Stadtschloss werden die Grundsteine für das Bild dieser Stadt zwischen gestern und morgen gelegt“, schrieb die Fachzeitschrift „Bauwelt“ bereits 1995 anlässlich einer ersten Zwischenbilanz zu den Planungen am Pariser Platz. Wie wahr! Und wie ernüchternd!

Der Autor ist Chefredakteur des Deutschen Architektenblatts in Berlin