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Archiv-Artikel

Hunde und Menschen

cannes cannes (9): Spekulationen über den Gewinner der Goldenen Palme und neue Filme des Koreaners Hong Sangsoo und des Taiwaners Hou Hsiao-Hsien

Müßig ist zu spekulieren, wer heute Abend die Goldene Palme entgegennimmt. Von den 21 Filmen des Wettbewerbs ist keiner ein klarer Favorit. Meine Lieblingsfilme, „Last Days“ und „L’enfant“, stammen von Regisseuren, denen die Goldene Palme vor nicht allzu langer Zeit zugesprochen wurde. Gus Van Sant erhielt sie vor zwei, die Brüder Dardenne vor sechs Jahren. Zudem fällt es einem in der Narration reduzierten, an Schauwerten armen Kino vermutlich schwer, Jurymitglieder wie John Woo, Emir Kusturica oder Salma Hayek zu überzeugen.

Andererseits: Wer wollte sagen, welche Filme Toni Morrisson gern sieht? Oder die indische Schauspielerin Nandita Das? Die französische Presse favorisiert „Caché“ von Michael Haneke. Und das Branchenblatt Variety überlegt, wer die „Palm Dog“ erhält. Die vergibt der britischen Verleiher Hamish McAlpine, Medienpartner ist passenderweise die britische Zeitschrift Our Dogs. Letztes Jahr ging die „Palm Dog“ an die Hunde in Jonathan Nossiters Dokumentation „Mondovino“. Und in diesem Jahr? Der an Menschenknochen nagende Husky aus Robert Rodriguez’ und Frank Millers Comicverfilmung „Sin City“ kommt höchstwahrscheinlich nicht in Frage.

Zwei Filme aus Asien hat die Festivallogistik ans Ende verbannt, obwohl sie in ihrem langsamen Rhythmus und ihrer klaren Form den ohnehin starken Wettbewerb aufwerten. Der koreanische Regisseur Hong Sangsoo stellt mit „Tale of Cinema“ einen zweigeteilten Film vor.

In der ersten Hälfte geht es um den Studenten Sangwon (Lee Kiwoo) und um Yongsil (Uhm Jiwon), eine Verkäuferin in einem Brillengeschäft. Sangwon möchte seinem Leben ein Ende setzen, und Yongsil entschließt sich, ihn auf diesem Weg zu begleiten. Beide überleben die Überdosis Schlaftabletten, die sie wie Smarties in ihre Münder stopfen. Die Kamera tritt ihnen dabei niemals zu nahe. Ein Close-up kommt nicht vor in „Tale of Cinema“.

Der zweite Teil kreist erneut um Yongsil. Jetzt ist sie älter, verdingt sich als Schauspielerin; wieder begegnet sie einem Mann, dessen Leben an einem toten Punkt angelangt ist: Tongsu (Kim Sangyung). In vielen Szenen ist die zweite Hälfte ein Echo auf die erste. Doch was genau die beiden zusammenhält, überlässt Hong Sangsoo der Fantasie des Zuschauers. Ist der erste Teil ein Film, den Tongsu im Kino gesehen hat, bevor er Yongsil begegnen wird? Oder hat der Regisseur dieses Films sich einer Episode aus Tongsus Leben bemächtigt, um daraus seine Fiktion zu gewinnen? Demnach wären Künstler wie Vampire, die das Leben ihrer Mitmenschen aussaugen –das behauptet Tongsu. Yongsil aber widerspricht: „Ich glaube, du hast den Film falsch verstanden.“

In drei Teile gliedert der taiwanische Regisseur Hou Hsiao-Hsien seinen Film „Three Times“. Es sind drei Liebesgeschichten mit jeweils denselben Hauptdarstellern (Shu Qi als Frau, Chang Chen als Mann). Die erste Episode spielt 1966 und erinnert aus der Ferne an die Elegien Wong Kar-wais, da Hou Hsiao-Hsien mit den Kostümen und der Musik ähnlich schwelgerisch verfährt wie der Regisseur aus Hongkong. In langen Einstellungen folgt er den Billardpartien, mit denen sich die Protagonisten die Zeit vertreiben; dazu ertönt „Smoke gets in your eyes“.

Dass das Billardspiel eine recht offensichtliche Metapher für Menschen ist, die sich begegnen und auseinander gehen, ist rasch verziehen, genauso wie die romantische Verknüpfung von Krankheit und Liebe im dritten Teil, der im Taipei der Gegenwart angesiedelt ist.

Denn die zweite Episode birgt eine Überraschung: Sie ist ein Stummfilm in Farbe, angesiedelt im Jahr 1911. Die Stimmen der Darsteller sind nicht zu hören, obwohl alle anderen Onscreen-Geräusche berücksichtigt werden. Wenn zum Beispiel Shu Qi als Kurtisane Ah Mei singt, ist dies Teil der Tonspur. Dass nur die Dialoge auf zwischengeschnittene Texttafeln ausgelagert werden, zeitigt umso verblüffendere Effekte.

CRISTINA NORD