: Die Würde der EZB ist unantastbar
Der EU-Verfassungsentwurf lässt Parlamenten und Regierungen in der Wirtschafts-und Sozialpolitik keine Reformoptionen. Was bleibt, ist das Recht auf ein Arbeitsamt
Der europäische Verfassungsentwurf ist ein Unikum in der Geschichte demokratischer Verfassungen. Normalerweise ist der Sinn einer Verfassung, den gesellschaftlichen Grundkonsens zu fixieren, den institutionellen Rahmen einer Gesellschaft festzulegen, sowie Status und Beziehungen zwischen den politischen Institutionen zu definieren. Der vorliegende Entwurf dagegen fixiert weit darüber hinaus minutiös und verbindlich Vorgaben für einzelne Politikfelder wie Wirtschafts-, Haushalts-, Geld- und Fiskalpolitik.
Sieht man sich die Architektur des einschlägigen Artikels III und seiner 157 Paragraphen genauer an, so erschließt sich diese verfassungsgeschichtliche Absonderlichkeit rasch. Es geht darum, demokratisch legitimierten Parlamenten und Regierungen keine ordnungspolitischen Veränderungschancen und demokratische Reformoptionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik offen zu lassen. Verwirklicht wird dagegen ein Leitmotiv neoliberaler Ideologie: Parlament, Regierungen, Parteien, kurzum die Politik, müssen von den Märkten diszipliniert werden. Einzelheiten regelt die Verfassung.
Darauf zugeschnitten sind die Entscheidungsmodi. Während das Parlament in wirtschaftlichen Fragen ohnehin nichts zu entscheiden hat, gibt es eine systematische Asymmetrie bei Entscheidungen im Rat: Immer dann, wenn neoliberale Vorgaben geändert werden könnten, wie bei indirekten Steuern, ist Einstimmigkeit erforderlich (III-62 (1)). Die Chancen, auf diesem Wege umzusteuern, liegen also bei null. Umgekehrt, wenn es etwa um Abmahnungen von Abweichlern vom rechten Weg (z. B. III-71 (4)), oder Sanktionen beim Stabilitätspakt geht (III-76 (7)), reicht die qualifizierte Mehrheit.
Natürlich gibt es in Präambel und Grundrechtecharta auch für die Wirtschafts- und Sozialpolitik einige schöne Sätze. Selektiv zitieren die Befürworter der Verfassung gern solche Passagen, etwa in der jüngsten Erklärung der SPD-Linken. Was sie ausblenden, ist die Tatsache, dass die wirtschafts- und finanzpolitischen Bestimmungen von Artikel III dadurch nicht tangiert werden. Die konkreten und verbindlichen Politiken werden aber genau da festgelegt. Es ist wie mit dem sprichwörtlichen Kleingedruckten: All die schönen Sachen – „soziale Marktwirtschaft“ oder „Vollbeschäftigung“ – sind Verfassungslyrik, Softlaw ohne Bindewirkung. Einklagen lassen sie sich nicht.
Knallhart verbindlich dagegen sind zum Beispiel Statut und Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB). Dabei ist es einmalig in der Verfassungsgeschichte, dass eine einzige Variante der Wirtschaftstheorie, der Monetarismus, zum verbindlichen Leitbild der Währungs- und Geldpolitik wird: „Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten“ (III-77 (1)). Dabei handelt es sich nicht um irgendeinen Politikbereich. Geldpolitik und Zinshoheit sind zentrale volkswirtschaftliche Hebel, über die etwa Investitionen beeinflusst werden. Was sich wiederum auf mittelständischen Unternehmen oder den Arbeitsmark auswirkt.
Die Resultate dieser Politik, die zwar von demokratisch legitimierten Institutionen unabhängig, dafür aber um so fester im monetaristischen Dogma verhaftet ist, können wir täglich besichtigen: Die Konjunktur wird abgewürgt, die hohe Arbeitslosigkeit verfestigt, in puncto wirtschaftlicher Dynamik ist die Eurozone Schlusslicht unter den Industrieländern. Wem aber nützen zu hohe Zinsen und die überzogene Preisstabilität? Den großen Geldvermögen.
Das sei nicht neu, heißt es, steht doch schon in den Verträge von Maastricht bis Nizza. Ja. Aber jetzt erhält diese gescheiterte Theorie die Würde einer Verfassung. Wer dann, etwa als Minister einer nationalen Regierung, mit keynesianischen Argumenten die EZB kritisiert, ist Verfassungsfeind. Damit das auch alle verstanden haben, heißt es ausdrücklich in Artikel III-80, dass die Regierungen bloß nicht versuchen, „die Mitglieder der Beschlussorgane der Europäischen Zentralbank oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“. Nicht anders sieht es mit dem Stabilitätspakt aus. Auch das ist ein Unikum. In den USA käme keine Regierung auf die Idee, sich einer derartigen Selbstfesselung auszuliefern. Kaum ist unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise dieser Pfeiler der neoliberalen Zitadelle am Bröckeln, wird er in der Verfassung verewigt.
Interessant ist nicht nur, was in der Verfassung drinsteht, sondern auch, was fehlt. Zum Beispiel eine Harmonisierung der Steuerpolitik bei direkten Steuern, also Einkommen-, Vermögen- und Unternehmensteuern. Kein Wunder, im neoliberalen Weltbild ist Steuerwettbewerb gut. Wenn in Estland Unternehmen keine Steuern zahlen, dann freut sich Siemens – denn das ermöglicht Kostensenkung durch Standortverlagerung.
Da, anders als beim Beitritt von Portugal, Spanien und Griechenland, keine umfangreichen Mittel mehr vorhanden sind, um die Beitrittsländer im Osten auf das Niveau der Gemeinschaft zu hieven, soll jetzt der Markt die Angleichung bewerkstelligen. Allerdings als Nivellierung nach unten. Lediglich bei indirekten Steuern zieht die Verfassung eine Harmonisierung in Erwägung. Einstimmig, versteht sich (III- 62 (1)).
„Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit.“ So heißt es in Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Was ist im europäischen Verfassungsentwurf davon übrig? „Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst.“ (II-29). Das Arbeitsamt als Menschenrecht! Auch von Vollbeschäftigung ist in Art III nicht mehr die Rede. Der Gewerkschaften ganzer Stolz aus der Präambel ist auf einen „hohen Beschäftigungsstand“ zusammengeschnurrt.
Wenn es konkret wird, geht diese Verfassung kein Risiko für das Kapital ein. Das gilt auch für den gesamten Bereich der sozialen Sicherung. Sofern er nicht ohnehin unter nationaler Regelung verbleibt, ist wolkig von „konsultieren“, „anhören“ und „Dialog“ die Rede. Wiederum Softlaw, und selbst das immer wieder eingeschränkt durch die „Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten (III-103).
So wird der Neoliberalismus zum Gesellschaftsvertrag erhoben. Mit seine Vorgaben wird aber nicht nur ein mit Kapitalinteressen konformer Typus Wirtschaftspolitik fixiert. Vielmehr ist dies auch eine Erosion der Demokratie. Politik wird unter diesen Bedingungen zum mehr oder minder intelligenten Management erzwungener Anpassung an Imperative des Markts. Alternativen werden verfassungsfeindlich. Das TINA-Prinzip wird Gesetz. PETER WAHL