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Sie waren Vorhut und Minderheit

Neun Biografien: Walter Frey und Brunhilde Wehinger erzählen von linken Weddinger Bürgerinnen im Widerstand während der NS-Zeit

Von Katja Kollmann

Wie viel Leben passt zwischen zwei Buchdeckel? 250 eng bedruckte Seiten müssen reichen für ein Jahrhundert und neun prallgefüllte Frauenleben, von denen eines gewaltsam in seiner Mitte endet und alle anderen mit viel Glück die Jahrhundert-Katastrophe überleben.

Über die Hälfte der neun Frauen zieht Ende der 1920er Jahre in eine Neubauwohnung in der Friedrich-Ebert-Siedlung im Weddinger Afrikanischen Viertel. Eine davon, Elly Kaiser, spricht im Rückblick von der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft, die hier gelebt wurde. Um die Ecke wohnen auch KommunistInnen, stellt doch die KPD Anfang der 1930er Jahre 40 Prozent der Bezirksabgeordneten im Wedding. Maria Hodann ist Mitglied im Internationalen Sozialistischen Kampfbund, der sich für eine Einheitsfront von KPD und SPD stark macht, und lebt mit ihren politischen WeggefährtInnen in einer WG in der Nähe vom S-Bahnhof Wedding.

Walter Frey und Brunhilde Wehinger entwerfen in ihrem Buch „Mut Hoffnung Widerstand – politisch engagierte Frauen in Berlin-Wedding während der Weimarer Republik und NS-Diktatur“ ein Miniatur-Panorama und erzählen gleichzeitig von den großen politischen Kämpfen in der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vor Ort in den Pharussälen an der Müllerstrasse ausgetragen wurden. Tiefrot leuchtet der Buchumschlag. Drinnen illustriert ein Foto jede Biografie.

Ernst blickt Hilde Rubinstein im schwarzen Rollkragenpulli in die Kamera. Die junge Malerin und Dichterin ist Mitglied der KPD und schreibt Zeitstücke, die im linken „Kampftheater“ Junge Volksbühne ihren Platz finden. Anfang 1933 wird sie Mitglied einer KPD-Straßenzelle, die im November auffliegt. 1935 aus der Haft entlassen, gelingt ihr die Flucht nach Schweden. Elly Kaiser ist Archivmitarbeiterin der SPD-Reichstagsfraktion. Von 1933 bis 1938 lebt sie im Prager Exil, dann in Paris und 1941 schafft sie die Flucht in die USA. Ruth Schwalbach ist Mitglied der „Vereinigten Linken Opposition“, auch „Weddinger Opposition“ genannt, die sich gegen den stalinistischen Kurs der KPD positioniert. Ab 1933 ist sie als Teil in der „Gruppe Funke“ aktiv, die die illegale Betriebszeitung „Der Vertrauensmann“ produziert, und kommt dafür ins KZ Moringen. Ella Trebe ist ab 1933 Teil der illegalen KPD-Bezirksleitung. 1943 kümmert sie sich um eine Unterkunft für Ernst Beuthke, der mit einem Fallschirm aus einem britischen Flugzeug abgesprungen ist. Sie wird im Juni 1943 verhaftet und zwei Monate später im KZ Sachsenhausen ermordet. Das SPD-Mitglied Fanny Hüllenhagen versteckt seine Parteifreundin Helene Leroi zweieinhalb Jahre lang in einer Einzimmer-Wohnung und bewahrt sie so vor der Deportation.

Wehinger und Frey, der im Wedding wohnt und mit diesem Buch den zehnten Band der Reihe „Wedding-Bücher“ im Eigenverlag veröffentlicht, haben durch viel Recherche Material für ein lebendiges Porträt der Zeitumstände zusammengetragen, sodass die neun Biografien satt in der jeweiligen Umgebung schillern. Das politisch aufgeladene Leben im jeweiligen Partei-Biotop springt einem aus jeder Zeile entgegen. Aktivismus ist Alltag. Widerstand gegen die Nazis eine selbstverständliche, fast logische Folge. Diese Frauen waren Vorhut und zugleich Minderheit. Nach 1945 engagieren sich fast alle wieder politisch. Künstlerin Hilde Rubinstein wird 1989 mit einer Einzelausstellung am Kurfürstendamm geehrt. Da ist sie 85 Jahre alt.

Walter Frey, Brunhilde Wehinger: „Mut Hoffnung Widerstand – politisch engagierte Frauen in Berlin-Wedding während der Weimarer Republik und NS-Diktatur“, Verlag Walter Frey, Berlin 2024, 252 Seiten, 20 Euro

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