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Der Kollaps als Chance

Stillstand und Flutschen: Am Volkstheater Wien zeigen Helgard Haug und die Gruppe Rimini Protokoll eine „Kipp-Punkt-Revue“ um das Containerschiff „Ever Given“, das 2021 im Suezkanal stecken blieb

Von Sabine Leucht

Gleich die erste Szene gibt sich als Zugabe aus, als etwas, was nach dem Ende kommt: Eine fiktive Band entert die Bühne des Volkstheaters und rockt los, als würde sich der Saal tobend nach ihr verzehren. Im Laufe des Abends lernt man drei der sechs Bandmitglieder näher kennen. Man erfährt, dass der begnadete Sänger Adham Elsaid aus Kairo kommt, einst eine Medaillenhoffnung im Schwimmen war und nach einer Polio-Infektion im Rollstuhl sitzt. Michaela Gorsch-Fischer war Schlittschuhläuferin, bis ihre Fußknöchel streikten, und Hana Hazem Arabi hat eine lange Fluchtgeschichte aus Syrien mitgebracht. Auf seinem Sweater prangt in großen gelben Lettern der Schriftzug „Ever ­Given“.

Das ist auch der Titel dieser „Kipp-Punkt-Revue“ von Rimini Protokoll-Mitglied Helgard Haug, benannt nach dem Containerschiff, das 2021 sechs Tage lang den Suezkanal blockierte. Unvergessen das Foto, auf dem ein ameisenkleiner Bagger sich abmühte, den Koloss loszueisen. Unvergessen der Schock, den der Vorfall der Weltwirtschaft versetzte: Wie verletzlich unser Wohlstand ist, wie angewiesen darauf, dass die globalen Lieferketten gut geschmiert sind, der Verkehr mit Waren und Rohstoffen flutscht!

Um diese beiden Motive – den Stillstand wie das Flutschen – dreht sich alles an diesem Abend, der den Kollaps zur Chance ausruft und das kapitalistische Höher-Schneller-Weiter zum eigentlichen Problem. Schön verdichtete Sätze erzählen davon, die wie in Haugs Erfolgsproduktion „All Right. Good Night“ über die LED-Wand im Hintergrund der Bühne wandern. Aber anders als bei dieser konzertierten Aktion aus kollektivem Lesen und Live-Musik wird hier auch gesprochen – und wieder stärker angeknüpft an das, wofür Rimini Protokoll eigentlich bekannt ist: Die Arbeit mit Schauspiel-Laien, sogenannten Experten des Alltags. Und da erinnert „Ever ­Given“ stark an Haugs „Chinchilla Arschloch, waswas“ von 2019, worin Menschen mit Tourette und ihre körperlichen und verbalen Ticks nicht nur Raum bekamen, sondern zur Metapher wurden.

In Wien wiederholt sich das mit der per LED-Kachel zugeschalteten Künstlerin Marianne Vlaschits: Sie stottert und hat gelernt, das zu einer Stärke umzudeuten. Sie erzählt davon, wie das Stottern zwar den Rhythmus zerstört, aber auch Pausen zum Nachdenken lässt und erst seit der Industrialisierung als Problem wahrgenommen wird. Und sie lädt alle ein, es sich „in den Lücken, Nischen und kleinen Kratern meines Sprechens“ bequem zu machen.

Ihre Szenen gehören zu den stärksten an einem Abend, der zu viel nur lose miteinander Verbundenes zusammenzwingt. Hanas Geschichte vom Warten auf Schleuser, in Flüchtlingsbaracken, Containern und schließlich in einem Kaffeehaus in Österreich nimmt den größten Raum ein. Obwohl menschlich und politisch brisant, wird sie zum Exempel für die ruckelnden und immer wieder mutwillig blockierten Reisen „unbestellter“ Menschen verkleinert, während man für „bestellte“ Waren ständig Abkürzungen erfindet. Mal ruckelnd, mal treibend und fließend ist auch die Live-Musik von Barbara Morgenstern mit dem famosen Daniel Eichholz am Schlagzeug.

Doch einige Geschichten in der Geschichte ruckeln über Gebühr, werden auf halbem Wege fallengelassen, wirken konstruiert oder albern: So erzählt zum Beispiel auch die LED-Wand selbst ihre Geschichte vom Feststecken in einem der rund 18.000 Container der „Ever ­Given“, zwischen Kunsteisplatten, auf denen Michaela auf der Bühne Schlittschuh fährt, Dildos, Mikrochips, Kameras und Chemieprodukten.

Am Ende fällt der Abend seinem eigenen Konzept zum Opfer: So lange umarmen seine großen Erzählschleifen den Kollaps und die Langsamkeit, bis es schlicht langweilig wird.

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