piwik no script img

Joachim Schulz Der Erlöser der Kakerlaken

Petris, Wirt des Café Gum und Grieche, guckte verständnislos aus der Wäsche. „‚Seinen Moralischen haben‘?“, wiederholte er Luis’ Bemerkung. Er hatte keinen blassen Schimmer, was das bedeuten könnte. „Das sagt man, wenn jemand total deprimiert ist“, erklärte Luis, „einfach so, ohne Grund, verstehst du? So wie Raimund. Bloß weil es draußen kalt ist und nass und dunkel.“

„Bullshit!“, brummte Theo. „Das sagt heutzutage niemand mehr. Höchstens einer, der so oldschool ist wie du und immer noch mit der Postkutsche verreist.“ – „Außerdem bin ich nicht grundlos deprimiert“, protestierte Raimund: „Alle hassen mich! Wenn das kein Grund ist …“

Er hatte am Wochenende Frizzo besucht, der kürzlich nach Hamburg gezogen war, und gleich am ersten Morgen verpasste ihm das Leben einen rechten Schwinger. „Ich stand in der Bäckerei und sagte fröhlich: ‚Vier Brötchen, bitte!‘“, erzählte Raimund. Die Bäckersfrau aber starrte ihn an, wie sie sonst vermutlich nur Kakerlaken anpeinlich: Hasserfüllt, mordlüstern. „Brötchen?“, zischte sie: „Ham wir nech!“

„Ich wäre am liebsten davongelaufen und fortan mit einer soliden Bäckersfrau-Phobie durchs Leben gegangen“, fuhr er fort, „aber ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, zeigte auf die Schütte voller Brötchen hinter ihr und sagte: ‚Und was ist das da?‘“ Sie aber blickte sich nicht mal um. „Das?“, sagte sie: „Sind Rund-s-tücke!“

So ging es das ganze Wochenende weiter: In der Kneipe, im Millerntorstadion, auf der Rückfahrt im Zug – überall sah er blanken, unerklärlichen Hass in den Blicken seiner Mitmenschen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis einer einen Schuh auszöge und ihm wie jeder anderen Kakerlake eins überbriete.

Raimund schniefte. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, und Luis war drauf und dran, ihn in den Arm zu nehmen. Theo jedoch drängte sich dazwischen. „Was bist du bloß für ein Weichei geworden!“, knurrte er. „Früher, als wir noch Punks waren, hättest du diesen Hass wie eine Trophäe behandelt! Wir wollten den Abscheu der Leute, ihr Hass fiel auf sie und ihre kranke Welt zurück. Er adelte uns und das andere Leben, von dem wir träumten, wir hattatatututä …“

Er kam aus dem Konzept und schnappte nach Luft, denn plötzlich starrte das Weichei ihn mit eisiger Feindseligkeit an. Aus Raimunds Miene sprach nur noch Verachtung, der Jammer, der ihn eben noch beherrscht hatte, war verflogen, und Theo brach der Schweiß aus.

„Ich … äh …“, stotterte er, sein Äußeres schien – so ähnlich wie bei Jeff Goldblum in „Die Fliege“ – etwas deutlich Kakerlakiges anzunehmen, und schließlich wusste wieder einmal nur Petris, was zu tun war, indem er ihnen zwei hausgebrannte Tsipouro hinstellte, sie mit einem warmen Blick bedachte und sagte: „Vertragt euch, Jungs, wenn wir nicht zusammenhalten, haben wir gegen die kalte, nasse, dunkle Welt da draußen keine Chance.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen