: Englisch für Anfänger, Russisch für Fortgeschrittene
taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 3): Die Thüringen-Gesamtschule in Marzahn bietet Anfängerkurse in Englisch für alle Klassenstufen und Russisch als erste Fremdsprache an. Sie ebnet damit auch Spätaussiedlern aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion den Weg zum Abitur
VON MARINA MAI
Es ist Pause. Auf dem Hof der Thüringen-Gesamtschule wird gerannt, gequatscht, gebrüllt. Anatoli lehnt an der Wand der Schule und liest einen russischen Roman. Seine Mitschüler lassen ihn in Ruhe, der Zehntklässler weiß das zu schätzen. An der Schule, die er vorher besucht hat, war das anders. „Das war eine Hauptschule“, sagt Anatoli mit leicht russischem Akzent. „Meine Mitschüler waren dumm und laut und haben die Schulwände kaputtgemacht.“ Die Hauptschule war ein Kulturschock für den Jungen, der vor zwei Jahren als Spätaussiedler aus Russland nach Deutschland kam.
Trotz ausgezeichneter Schulleistungen in Russland landete Anatoli auf der Hauptschule. Der Grund: In Russland lernt man nur eine Fremdsprache in der Schule, und wegen seiner deutschen Wurzeln hatte sich der Junge für Deutsch entschieden. Deshalb sprach Anatoli kein Englisch. Ohne Englischkenntnisse aber bleibt in Deutschland nur die Hauptschule.
Das erste Schuljahr in Berlin bedeutete für Anatoli vor allem Stress. Nicht, was die Schulleistungen angeht – in den meisten Fächern war er seinen Mitschülern weit voraus. Aber er passte nicht in die Hauptschule, er fühlte sich unwohl, lernte fast nichts. Dann hörte der Junge, der mit seiner Familie in Wilmersdorf lebt, von der Thüringen-Gesamtschule am anderen Ende der Stadt. Die bietet Englisch-Anfängerkurse für alle Klassenstufen an. Dafür nimmt Anatoli den Schulweg von mehr als einer Stunde in Kauf. „Hier kann ich lernen“, sagt er. „Alles andere ist nicht wichtig.“
Schüler wie Anatoli gibt es viele an der Gesamtschule. Jeder dritte der insgesamt knapp 600 Schüler hat einen Migrationshintergrund, die meisten von ihnen kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Das Besondere: Die Migrantenkids gehören hier – im Gegensatz zu vielen anderen Berliner Schulen – zu den leistungsstarken Schülern. Von denen, die nach der zehnten Klasse auf die gymnasiale Oberstufe wechseln, hat jeder Zweite einen Migrationshintergrund.
Die Pisa-Studie hat der deutschen Schule bescheinigt, Migrantenkinder nicht ausreichend zu fördern. Russische Einwanderer schneiden zwar besser ab als türkische, aber auch sie haben es schwer. An der Thüringen-Gesamtschule nimmt man sich ihrer besonders an. Schulleiter Rainer Bösel sucht bei jedem neuen Schüler nach dessen Stärken und Schwächen – und setzt genau da an, wo es nötig ist. „Wir führen mit jedem Bewerber ein individuelles Gespräch, schauen uns die Schulzeugnisse aus Russland und Deutschland genau an“, sagt Bösel.
Dann wird entschieden, ob sie den ganz normalen Unterricht besuchen können. In welchem Deutschkurs sie lernen. Ob sie einen Englisch-Anfängerkurs benötigen. Und ob sie vielleicht ein Jahr lang vom Mathematik- oder Physikunterricht befreit werden können, weil sie ihren Mitschülern weit voraus sind. In der Zeit können sie Defizite in anderen Fächern aufholen.
Neben dem Integrationskurs für Neuankömmlinge gibt es zwei weitere Spezialkurse für Migranten mit zusätzlichem Deutschunterricht. Erst wer die absolviert hat, kann in den normalen Deutsch-Grundkurs wechseln, der zum Übergang zum Abitur berechtigt.
Bei der Auswahl der Kurse hilft Natalia Tibelius, Schulsozialarbeiterin, Russin und die gute Seele der Schule. Sie kann Feinheiten russischer Schulzeugnisse deuten und Eltern beruhigen, die den schlechten naturwissenschaftlichen Unterricht in Deutschland kritisch sehen. Nicht nur am fehlenden Englisch scheitern viele Migranten, sagt die Sozialarbeiterin. „In Deutschland sind die Anforderungen an das Selbstbewusstsein und an selbstständiges Lernen höher. Da muss man sie ermutigen.“
Gleichzeitig muss man ihre besonderen Fähigkeiten anerkennen: Die guten Kenntnisse in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern, die in Ländern wie Russland und Kasachstan intensiver unterrichtet werden als hier. Und die russischen Sprachkenntnisse. Russisch kann an der Thüringen-Gesamtschule als erste oder zweite Fremdsprache erlernt werden. Das nutzen nicht nur Schüler mit russischen Wurzeln. Wenn jeder dritte Mitschüler russisch spricht, wird die Sprache auch für alteingesessene Marzahner wieder interessant.
Als sich die Thüringen-Schule 1990 zu ihrem umfangreichen Russischangebot entschloss, hatte das Kollegium vor allem einen pragmatischen Grund: Es gab viele Russischlehrer, die man weiter beschäftigen wollte. Erst in den Folgejahren zogen immer mehr Spätaussiedler nach Marzahn, die genau dieses Angebot brauchten. Schließlich hat die Schule auch die Methodik des Russischunterrichts umgestellt: Häufig wird dort nun vom Russischen ins Deutsche übersetzt, das hilft beim Deutschlernen. Und dass auch Fachlehrer in Kunst und Geschichte ein wenig Russisch sprechen, ist für die Neuankömmlinge ein Gewinn und verbessert das Schulklima.
Wichtig ist Schulleiter Bösel zudem die Elternarbeit der Schule. Die Eltern der russlanddeutschen Schüler bieten Arbeitsgemeinschaften in Holzbearbeitung, Tanz, Kochen und Sport an. Das erweitert nicht nur das Schulspektrum. Es wertet auch die Schüler mit Migrationshintergrund auf. Und unter den AG-Leitern gibt es sogar ausgebildete Pädagogen. Weil ihre russischen Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt sind, dürfen sie jedoch nicht als Lehrer arbeiten.
Seit Jahren gibt es an der Schule die Elterninitiative russlanddeutscher Eltern „Neue Marzahner“. Gibt es Probleme mit schwierigen Schülern, dann sind ihre Mitglieder die geeigneten Ansprechpartner: Wenn sie mit den Eltern der Betroffenen sprechen, erreichen sie meist mehr als der Schulleiter.
Inzwischen sind es nicht nur die Eltern, sondern auch ehemalige Schüler, die sich für Arbeitsgemeinschaften in der Schule interessieren, sagt Sozialarbeiterin Tibelius. Vor einigen Tagen war eine Ehemalige da, die jetzt Tanz studiert und Tanzkurse anbieten möchte. Tibelius sucht nach einem Foto der Frau und kann es nicht finden. „Ich habe schon lange geplant, eine Fotowand mit den Hochzeits- und Babyfotos unserer ehemaligen Schüler anzubringen“, sagt sie. Denn so eine Fotowand würde auch eine Botschaft vermitteln: Diese Schule führt ins Leben, nicht ins Abseits.