Mehr Wertedebatten oder mehr schöner Schein?

Was würde sich bei einem Regierungswechsel kulturpolitisch ändern? Noch weiß es die mögliche schwarz-gelbe Koalition wohl selbst nicht

Während aus NRW die ersten Hochrechnungen gemeldet wurden, versammelte man sich in Berlin am Sonntag zum ersten öffentlichen Programm der neu eröffneten Akademie der Künste. Bald machten die Prozentzahlen die Runde, und man kann von diesem Augenblick berichten, dass niemand angesichts der Rot-Grün-Dämmerung in seinen Grundfesten erschüttert war.

Stimmt schon, die Gelassenheit gründet sich auch auf der opernpremierenhaften Zusammensetzung des Publikums an diesem Abend. Es gibt aber noch einen zweiten Grund für die Gelassenheit, und der besteht in der Meinung, dass sich kulturpolitisch bei einem Regierungswechsel sowieso nur wenig ändern wird. Aber ist das wirklich so klar?

Die Sache ist die, dass man über die Kulturpolitik einer möglichen schwarz-gelben Bundesregierung tatsächlich viel weniger weiß, als man intuitiv zu wissen glaubt. Es gibt zwei mögliche Szenarios. Nummer eins besteht darin, dass sie sich irgendwie auf die Förderung von bürgerlichem Erbe und auf Repräsentationskultur verlegt – die kulturellen Leuchttürme des Bundes, die Rot-Grün inzwischen unter die Fittiche genommen hat (wie die Akademie der Künste), dürften dann tatsächlich wenig zu befürchten haben. Äußerungen des Bundespräsidenten gehen jetzt schon in diese Richtung, beruft er sich doch ganz gern auf ein gesellschaftliches Selbstverständnis als Bildungs- und Kulturnation.

Und hier sollte man schon eine mögliche Differenz markieren! Die rot-grüne Bundesregierung ist zwar auch hochkulturbeflissen, aber sie ist es nicht nur. Zuletzt hat sich folgende Arbeitsteilung herausgespielt: Kulturstaatsministerin Christina Weiss und, wenn er Zeit hat, auch Gerhard Schröder hofieren das bürgerliche Kulturerbe, die Bundeskulturstiftung fördert aber gleichzeitig politische Kunstansätze und Debattenkultur, und ganz allgemein hat man auch gegen die Spaßkultur wenig zu sagen – gelegentlich macht der Kanzler sogar ganz gerne mit.

Es gibt hier also einen egalitären Rahmen. Den muss eine schwarz-grüne Bundesregierung, auch wenn sie an der Spitze dieselbe Hochkulturpolitik machen sollte, nicht mitnehmen. Man unterschätze nun solche Rahmen nicht. Eine Berliner Akademie, die sich gegen eine angenommene Unterklassenkultur abgrenzen zu müssen glaubt, ist eine ganz andere Institution als eine, die offen die aktuellen künstlerischen Entwicklungen in sich zu integrieren sucht; gerade die Wechselbeziehungen zwischen E- und U-Kultur sind ja derzeit interessant. Schon unter Rot-Grün hat es so eine Öffnung nicht leicht. Unter Schwarz-Gelb könnte sie vollends stagnieren.

Das zweite Szenario geht dahin, dass eine schwarz-gelbe Regierung auch einen anderen Ehrgeiz entwickeln könnte – den, konservative Kulturpolitik ganz neu zu definieren: hin zu einer kulturkonservativen Debattenkultur, die den liberalen Mainstream in der Bundesrepublik frontal angreift. Dass das unter Helmut Kohl unter dem Begriff „geistig-moralische Wende“ schon mal gescheitert ist, muss schließlich nicht bedeuten, dass es nicht noch einmal versucht wird. Von der Rechtschreibreform über die Wertedebatte bis zur neuen Gläubigkeit wurden da zuletzt schon Debatten in diese Richtung ausprobiert. Klartext: Würde einer wie FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher Bundeskulturstaatsminister werden, würde sich das Debattenklima durchaus verändern, und zwar in Richtung Abgrenzung und Verschärfung.

Vor der Wahl sollte man unbedingt noch einmal herauskriegen, in welche kulturpolitische Richtung eine schwarz-gelbe Koalition zu steuern gedenkt. Noch weiß sie es wohl selbst nicht.

DIRK KNIPPHALS