: Selbstkritik? Fehlanzeige!
Der Niedergang der NRW-SPD hat mehr Gründe als die politische Großwetterlage. Doch damit will sich die Partei nicht befassen
VON PASCAL BEUCKER
An besseren Tagen begeistert hier im kleinen Apollo Theater der 96-jährige Konrad Thurano sein Publikum mit Drahtseilakten. Der älteste aktive Artist der Welt stand schon mit Sammy Davis jr. und Bing Crosby auf der Bühne, mit Clown Grock teilte er die Garderobe. Die sind alle längst Geschichte. Nur Thurano zeigt noch immer seine Kunst.
An diesem Sonntagabend aber steht ein anderer im Mittelpunkt des Düsseldorfer Varietés mit dem rotplüschigen Ambiente: Peer Steinbrück. Auch der scheidende Ministerpräsident versucht ein Kunststück: Auf der „Wahlparty“ der nordrhein-westfälischen SPD versucht er seinen frustrierten Genossen ihre schweren Depressionen wegzufabulieren. „Wir müssen jetzt sehr schnell nach vorn gucken“, ruft er ihnen zu. Denn „alle, die jetzt Wunden lecken, müssen sich darauf einstellen, dass im Herbst eine noch weiter gehende Entscheidung ansteht“. Doch welche Entscheidung könnte für einen Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr weitergehender sein als diese historische Niederlage?
Ende einer Ewigkeit
Eine neue Zeitrechnung hat begonnen. Fast vier Jahrzehnte haben die Genossen das bevölkerungsreichste Bundesland regiert. Auch die langen bitteren Jahre sozialdemokratischer Opposition während der Ära Kohl im Bund nahm man hier gelassen. Schließlich blieb NRW weiter fest in ihrer Hand. In Düsseldorf regierte seinerzeit der rote Übervater Johannes Rau, die meiste Zeit mit absoluter Mehrheit. Was will man mehr? Nordrhein-Westfalen – das war ihr irgendwie sozialdemokratisches Eigentum. So wie halt Bayern der CSU gehört. Und auf ewig würde das so bleiben, dachten sie. So wuchs ein Gefühl, das die SPD in einfache Worte zu kleiden verstand: „Wir in Nordrhein-Westfalen“. Sollte sagen: Land, Menschen und Partei sind vereint. Dazu gehörte auch das Bewusstsein, dass jemand, der etwas hier werden wollte, besser daran tat, mit einem SPD-Parteibuch ausgestattet zu sein. So war das halt. Bisher.
Auch die Grünen, die seit 1995 an der Regierung beteiligt werden mussten, waren für die SPD nie mehr als Mehrheitsbeschaffer: nervig, aber nützlich. Sie durften der Schwanz sein, mit dem der Hund wedelt, mehr nicht – ein Bild übrigens, das Steinbrück auch noch in beiden TV-Duellen gegen seinen CDU-Herausforderer Jürgen Rüttgers bemühte. Die schleichende Auflösung sozialdemokratischer Milieus und ihren unter Rau-Nachfolger Clement an Tempo gewinnenden Abstieg wollte die Partei hingegen nicht zur Kenntnis nehmen. Sie verweigerte sich schlicht den Realitäten. Denn eigentlich hätten schon bei der Landtagswahl 2000 alle Alarmglocken läuten müssen. Damals bekam die SPD total noch weniger Stimmen als jetzt und blieb nur dank schlechter CDU-Wählermobilisierung an der Macht.
Der am Sonntag vollzogene Wechsel sei „keinesfalls nur ein Reflex der Wähler auf die Großwetterlage“, hat denn auch der Chef des Berliner Forsa-Instituts, Manfred Güllner, analysiert. Der Niedergang der SPD habe tiefer liegende Gründe. Doch mit denen will sich die Partei nicht beschäftigen. Zumindest vorerst nicht. So behauptete ihr gescheiterter Spitzenkandidat Steinbrück trotzig, nach Gründen für die verheerende Wahlschlappe zu suchen sei „eilfertig“; es sei jetzt auch nicht die Zeit, „mit dem Finger auf andere zu zeigen“. Selbstkritik? Fehlanzeige. Die SPD wird sich auf eine lange Oppositionszeit einstellen müssen.
Posten und Pöstchen
Im Inneren des leckgeschlagenen Tankers brodelt es indes. Die Wahlkatastrophen auf kommunaler und jetzt auf Landesebene und der damit verbundene massive Verlust von Posten und Pöstchen haben auch persönlich bei vielen Genossen tiefe Spuren hinterlassen: Unzählige Karriereträume sind brutal zerplatzt. Zuerst wurden die Städte schwarz, jetzt wird es auch noch das Land. Die wenigen noch verbliebenen roten Flecken vor allem im Ruhrgebiet reichen bei weitem nicht mehr zur Befriedigung individueller sozialdemokratischer Versorgungsgelüste. Hinzu kommt die Unzufriedenheit etlicher Provinzfürsten, die am Wahlabend ihr sicher geglaubtes Landtagsdirektmandat eingebüßt haben und die nicht wie die ebenfalls in ihren Wahlkreisen gescheiterten Landesminister Fritz Behrens, Jochen Dieckmann, Axel Horstmann und Ute Schäfer oder auch wie Landtagsfraktionschef Edgar Moron wenigstens über die Landesliste wieder ins Parlament einziehen konnten. Auch manches hoffnungsvolle politische Talent wie der junge Kölner Parteichef Jochen Ott bleibt nun auf der Strecke.
Aber nicht einmal der tollpatschige SPD-Landeschef Harald Schartau wird die persönlichen Konsequenzen aus dem Wahldesaster ziehen und seinen Platz räumen. Es sei nicht sein Verständnis von Verantwortung, „sich in die Büsche zu schlagen“, verkündete er am Wahlabend. Ihm hatte der grüne Vize-Landtagsfraktionschef Reiner Priggen noch im Wahlkampf bescheinigt, er sei ein „dreifaches politisches Trauerspiel“: Schartau sei nicht nur „der schwächste Landesvorsitzende, den die SPD je hatte“, sondern „auch als Wirtschafts- und Arbeitsminister eine Enttäuschung“. Eine Einschätzung, die nicht wenige führende Sozialdemokraten teilen. Aber nach dem Bundestagsneuwahl-Coup von Schröder und Müntefering ist das Scherbengericht erst einmal vertagt. Jetzt gilt: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Auf zur nächsten Niederlage.