: „Es muss etwas wehtun“
INTERVIEW CHRISTIAN RATH
taz: Herr Wahl, reicht der Wunsch nach Neuwahlen aus, um den Bundestag aufzulösen?
Rainer Wahl: Nein, das Grundgesetz sieht die Auflösung des Bundestags nur als Ultima Ratio vor, als letzte Möglichkeit. Ziel war, instabile Verhältnisse wie in Weimar zu verhindern. Vorgezogene Neuwahlen sind laut Verfassung nur möglich, wenn der Bundeskanzler im Parlament eine Vertrauensabstimmung verliert und keine stabile Mehrheit mehr hat.
Darf dabei auch getrickst werden, etwa indem SPD und Grüne sich bei einer Vertrauensabstimmung kollektiv enthalten, um so den Weg für Neuwahlen freizumachen?
Als Staatsrechtslehrer bin ich für eine strenge Auslegung des Grundgesetzes. Demnach führt der Weg zu Neuwahlen nur über eine echte Vertrauensfrage. Der Kanzler muss die Abstimmung wirklich gewinnen wollen. Wenn Kanzler Schröder erst Neuwahlen ankündigt und dann die Vertrauensfrage stellt, dann spricht dies nicht gerade dafür, dass er um eine Mehrheit im Bundestag kämpfen will.
Das Bundesverfassungsgericht war 1983 allerdings großzügiger. Damals wollte sich Kanzler Kohl, der durch den Koalitionswechsel der FDP an die Macht gekommen war, mit Neuwahlen auch vom Volk legitimieren lassen. Karlsruhe hat das akzeptiert. Warum?
Das Bundesverfassungsgericht hat damals angenommen, dass sich Helmut Kohl seiner Mehrheit im Bundestag nicht sicher sein konnte. Es hat unterstellt, dass die FDP fast vor dem Auseinanderbrechen stand, nachdem sie die Koalition mit der SPD platzen ließ. Diese Sichtweise war damals für alle Beteiligten überraschend. Die FDP hatte ja zuvor stets betont, dass ihre Fraktion im Bundestag stabil zu Kohl stehe. Die Richter haben den Beteiligten 1983 sozusagen einen Grund und eine Rechtfertigung für ihr eigentlich unzulässiges Tun aufgedrängt, den die Akteure selbst gar nicht benutzt hatten.
Das Verfassungsgericht hat damals aber auch Maßstäbe für die Auflösung des Bundestags aufgestellt …
Ja, diese Maßstäbe halte ich auch im Wesentlichen für richtig. Unzutreffend war nur ihre Anwendung auf Kohls Vertrauensfrage 1983.
Dann schauen wir uns die Karlsruher Maßstäbe mal genauer an. Wann ist nach Ansicht der Richter eine Auflösung des Bundestages zulässig?
Wenn politisch nicht mehr gewährleistet ist, dass der Kanzler mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterregieren kann. Mit anderen Worten: Es kommt auf eine echte Vertrauenskrise zwischen dem Bundeskanzler und der Parlamentsmehrheit an.
Sehen Sie derzeit eine derartige Vertrauenskrise zwischen Kanzler Schröder und den Fraktionen von SPD und Grünen?
Die Situation ist für Gerhard Schröder sicher schwieriger, als sie es 1983 für Helmut Kohl war. Kohl war gerade durch ein erfolgreiches Misstrauensvotum an die Regierung gekommen, sein Erfolg mit dieser Mehrheit lag auf der Hand, während Schröder ja nur eine knappe Mehrheit von 4 Stimmen hat. Wenn jetzt, nach der verlorenen NRW-Wahl, ein Richtungsstreit in der SPD ausbricht, dann könnte sich tatsächlich eine Vertrauenskrise entwickeln. Man kann jetzt also noch gar nicht sagen, ob Schröders Versuch, Neuwahlen auszulösen, zulässig ist oder nicht.
Wenn die SPD-Linke also die von Schröder gewünschte Senkung von Unternehmenssteuern torpediert, dann könnte dies die Auflösung des Bundestags rechtfertigen?
Zum Beispiel.
Genügt es auch, wenn der Kanzler eine solche Vertrauenskrise nur befürchtet, ohne dass sie schon sichtbar ist?
Wenn das Vertrauensproblem nicht für alle klar auf der Hand liegt, dann muss der Kanzler deutlich machen, weshalb das Vertrauen nicht mehr vorhanden sei. Er müsste zum Beispiel darlegen, bei welchen Projekten er sich auf eine Mehrheit des Parlaments nicht verlassen könne.
So etwas sagt ein Kanzler nicht so gerne, wenn er anschließend mit der gleichen Koalition wiedergewählt werden möchte …
Vermutlich. Aber die Parlamentsauflösung soll ja auch nicht zu einfach sein. Wenn sie dem Kanzler etwas wehtut, entspricht dies durchaus dem Geist des Grundgesetzes.
Der allgemeine Hinweis auf schwierige Zeiten genügt also nicht?
Nein. Das Regieren ist in der Demokratie fast immer schwierig. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht klar gesagt: Besondere Schwierigkeiten der anstehenden Aufgaben rechtfertigen die Auflösung des Bundestages nicht.
Auch wenn der Bundeskanzler sich gerne neue Legitimation in der Bevölkerung holen würde?
Es kommt auf das Vertrauen des Bundestags an, der für vier Jahre gewählt ist.
Können die Probleme mit dem unionsdominierten Bundesrat Neuwahlen rechtfertigen?
Nein. An den Mehrheitsverhältnissen in der Länderkammer würden Neuwahlen zum Bundestag ja auch gar nichts ändern.
Eigentlich liegen die Hürden damit recht hoch …
Mag sein, aber man darf nicht vergessen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1983 diese Maßstäbe recht großzügig zugunsten des damaligen Kanzlers angewendet hat. Auch die Großzügigkeit im Einzelfall gehört zum „Erbe“ dieser Entscheidung. Bei der Frage, ob tatsächlich eine Vertrauenskrise vorliegt, wurde dem Kanzler ohnehin ein Einschätzungsspielraum zugebilligt. Karlsruhe wird wohl nur einen offensichtlichen Missbrauch der Vertrauensfrage rügen.
Wer könnte überhaupt gegen schmutzige Tricks bei der Auflösung des Bundestags klagen?
Jeder einzelne Abgeordnete kann hier das Bundesverfassungsgericht anrufen. Die Abgeordneten sind auf vier Jahre gewählt und ihre Amtszeit darf nur auf dem Wege vorzeitig beendet werden, den das Grundgesetz erlaubt.