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Archiv-Artikel

Bloß nicht bewegen

THEATER Christine Lister inszeniert Tschechows selten gespieltes Frühwerk „Platonow“ als intensives, langsam rollendes Schauspielertheater

Die Liebe ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Lebenssinn, der für die täglichen Drangsale entschädigen soll

VON ANDREAS SCHNELL

Es ist durchaus kein verkehrter Gedanke, das Repertoire ab und an auf seine Aktualität abzuklopfen. Dabei könnte sich herausstellen, dass in den letzten 150 Jahren in manchen Belangen die Dinge sich erschütternd wenig verändert haben. Die Darstellung des Elends der Armut im Kapitalismus bei Horvath trifft auch heute zu, die Analysen Fassbinders zur Ökonomie der Liebe ebenfalls.

Wie aber ist es mit Tschechow, bekanntlich übrigens Lenins Lieblingsdramatiker? Seine Schilderungen der zaristischen Gesellschaft, des sittlichen und wirtschaftlichen Verfalls, sind psychologisch genau, und nicht nur die Regelmäßigkeit, mit der seine Stücke auf den Spielplänen zu finden sind, deuten darauf hin, dass er uns auch heute noch etwas zu sagen hat.

Christine Eder hat sich des Frühwerks „Platonow“ angenommen, das der Autor einst eigenhändig zerriss, nachdem das Moskauer Maly-Theater das ursprünglich namenlose Stück abgelehnt hatte. Im Nachlass fand es sich dann aber doch. Zum Glück. Denn so wissen wir, dass er seinen ganz eigenen Sound schon früh entwickelt hatte. „Platonow“ ist durchaus bereits typischer Tschechow: Das ländliche Establishment ergeht sich in Müßiggang und verzweifelt an der Sinnlosigkeit des Lebens, wobei es weniger der Überfluss ist, der das Nichtstun ermöglicht, als die Passivität, die das Personal trotz ökonomischen Niedergangs daran hindert, seinem Leben eine Richtung zu geben.

Hauptfigur ist der Dorfschullehrer, der in seinen Kreisen als geistreiche Gesellschaft gilt, in seinem Inneren aber ein verzweifelter Zyniker ist. Zunächst scheint noch alles in Ordnung: Die Generalswitwe Anna Petrowna bewirtet ihre Freunde und Nachbarn, der Sommer ist endlich da, dem Alkohol wird eifrig zugesprochen, in eitlen Wortgefechten besteht der andere wesentliche Teil der Unterhaltung.

Platonow ist von all dem angewidert. Dabei findet er selbst keinen Weg, „zu leben, wie wir könnten“. Mittendrin, aber knapp daneben: Der Gutsbesitzer Brugow, der einzige, der noch Geld hat und deshalb ständig angepumpt wird, ohne dass sein Kredit seiner wirtschaftlichen Bestimmung nachkäme: Wachstum zu erzeugen.

Das fließt ziemlich lange vor sich hin, im Original, das ohne Striche an die sieben Stunden dauert, noch etwas länger, aber Eder gelingt es auch in einer auf zweieinhalb Stunden gekürzten Fassung, den trägen Puls der ländlichen Langeweile grooven zu lassen. Dabei kann sie sich auf ein Ensemble stützten, das vor allem mit dem wieder einmal tollen Alexander Swoboda als Platonow und Jan Byl als Trilezki zwei starke Darsteller hat, die ihre Figuren mit komödiantischem Talent, aber auch mit Tiefgang füllen.

Swoboda enthüllt langsam, aber sicher die Zerrissenheit des Platonow, der an der Verkommenheit seiner Mitmenschen leidet, selbst aber ebenfalls nicht imstande ist, sein Leben in die Hand zu nehmen. Stattdessen ist er hin- und hergerissen zwischen seiner Ehefrau und den Annäherungsversuchen der anderen Damen, die sich von ihm Höheres versprechen, das er allerdings unfähig ist, zu bieten.

Die Bühne von Annelies Vanlaere, die auch für die Kostüme verantwortlich ist, deutet die Situation der Figuren an: Wie auf einer Insel sitzen sie meist auf einer nach den Seiten abfallenden Fläche. Wer sich bewegt, mit dem geht’s bergab.

Der einzige Ausweg, der Langeweile zu entgehen: die Liebe, besser: die Jagd nach sexuellen Abenteuern. Allerdings wird es hier etwas knifflig mit der Aktualität Tschechows. Denn die Liebe ist in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ja durchaus der Lebenssinn, der für die täglichen Drangsale entschädigen soll, dafür, dass die meisten Menschen tagein, tagaus damit beschäftigt sind, in fremdem Auftrag unterwegs zu sein.

Im „Platonow“ ist allerdings davon nichts zu hören. Hier ist nichts von der Abstiegsangst der Mittelschicht zu spüren, die in den westlichen Industriegesellschaften eingezogen sein soll, diese Figuren treten nicht nach unten, wollen keine Karriere machen, arbeiten nicht in mehreren Jobs, um über die Runden zu kommen.

Insofern muss Eder widersprochen werden, wenn sie sagt: „Ich finde das entspricht total unserer Gesellschaft, immer, zu jeder Zeit – manchmal mehr, manchmal weniger. Gerade jetzt, wenn man die aktuellen Wirtschaftskrisenhintergründe als Raster im Kopf hat, ist das extrem spannend.“

Dennoch: Dieser „Platonow“ funktioniert. In seiner Zeichnung der Selbstgerechtigkeit seiner Figuren, die am Ende wie in einer Familienaufstellung um sich selbst kreisen.

■ Nächste Vorstellungen: heute, Samstag, 14.4. & Mittwoch, 18.4., 20 Uhr, Neues Schauspielhaus