: Am Beispiel zweier Brüder
Die Völklinger Zwillinge Klaus und Norbert Degen – warum ist der eine in der SPD geblieben, der andere aber zur Linkspartei gegangen?
■ Die Wahl: Im Saarland wird wie in Thüringen und Sachsen am 30. August gewählt. Als sicher gilt nur, dass die allein regierende CDU von Ministerpräsident Peter Müller nicht mehr die absolute Mehrheit erhält.
■ Der Kampf: Oskar Lafontaine, der von 1985 bis 1998 Ministerpräsident im Saarland war, wahlkämpft gegen den SPD-Spitzenkandidaten Heiko Maas. Der war in den 90ern unter Lafontaine Staatssekretär.
■ Die Prognose: Nach bisherigen Umfragen liegt die CDU vor der SPD, dann folgt die Linke. Weder Rot-Rot noch Schwarz-Gelb haben aber eine Mehrheit. WOS
AUS VÖLKLINGEN WOLF SCHMIDT
Es fängt schon bei der Kleidung an. Norbert und Klaus Degen tragen an diesem Abend in der „Hüttenschänke“ kurzärmlige Hemden, dazu braune Hosen. Beide. Und dann ist da dieses Lachen, das nach jedem Pils ein bisschen lauter wird und klingt wie das von Barney Geröllheimer aus der „Familie Feuerstein“.
Auch wenn der eine etwas fülliger ist und der andere Oberlippenbart trägt, merkt man es sofort: Die beiden sind Zwillinge. Am 6. März 1959 kommen sie zur Welt, Norbert zehn Minuten nach Klaus. Mit 14 machen sie den Hauptschulabschluss, sie schwimmen beim SV 09 Völklingen, schließlich fangen sie das Boxen an. Norbert wird dreimal Saarlandmeister, Klaus fünfmal. Beide sind sie Linksausleger, bekannt für ihre harte Gerade.
Ihr Weg in die Politik beginnt mit: Willy. Zwei Wochen vor der Bundestagswahl, am 4. November 1972, kommt Willy Brandt nach Völklingen. 6.000 Menschen jubeln vor dem Stahlwerk, sogar auf den Häuserdächern sitzen sie. Mit dabei: Norbert und Klaus, dreizehn Jahre alt, begeistert von so viel Begeisterung. Es ist ihr sozialdemokratisches Erweckungserlebnis.
37 Jahre später bestellt Norbert Degen Plakate für Heiko Maas, den „neuen Mann“ der SPD. Und Klaus sammelt Unterschriften für Oskar Lafontaine, den alten Mann der SPD und heutigen Chef der Linkspartei. Hier trennen sich die politischen Wege der Degens.
Im Saarland wird Ende August gewählt, und seit Monaten beherrscht ein Thema den Wahlkampf: Die Auseinandersetzung zwischen der SPD und der Linken. Einstige Weggefährten wurden an der Saar zu Widersachern. Lafontaine, der hier 13 Jahre lang Ministerpräsident war, kämpft gegen seinen Ziehsohn Maas. Und der SPD-Mann Ottmar Schreiner kämpft gegen seinen alten Freund Lafontaine. Es ist wie ein großer Familienstreit. Bei den Degens läuft die Trennlinie mitten durch die Familie.
Man kann bei den Brüdern politische Zwillingsforschung betreiben. Warum ist Klaus zu den Linken übergelaufen? Warum ist Norbert in der SPD geblieben?
Glühende Stahlblöcke
Klaus Degen steht in einer gut 20 Meter hohen Halle in der Saarschmiede, einer Tochter von Saarstahl, Abteilung 489. Degen ist hier Tagesmeister, Herr über neun Öfen, bis zu 13 Meter sind sie hoch. Ein Helm schützt seinen Kopf. „Degen Klaus“ steht auf der einen Seite, auf der anderen klebt ein IG-Metall-Sticker. Stolz zeigt Degen auf die Dutzende Tonnen schweren Turbinenwellen, die seine Arbeiter herstellen. Es ist heiß in den Hallen, in der Luft hängen Öldämpfe. Männer in silbernen Schutzanzügen stehen vor glühenden Stahlblöcken. Die Welt des Klaus Degen.
Zu Hause in einem Kästchen hat er eine Uhr. Er hat sie 2004 bekommen, für 25 Jahre Betriebszugehörigkeit. Der Vater hat auch schon so eine bekommen. Und der Großvater. Vielleicht wird auch Klaus Degens jüngstem Sohn einmal eine überreicht, er ist Lehrling bei Saarstahl.
Stahlarbeiter, Gewerkschafter, Betriebsrat: Menschen wie er hätten früher keine Sekunde gezögert, zu welcher Partei sie gehören. Doch genau das ist das Dilemma der Sozialdemokraten: Heute laufen ihnen die Arbeiter davon, ohne dass wie erhofft eine „Neue Mitte“ gekommen wäre.
Oskar Lafontaines Industriepolitik war es, wegen der Klaus Degen in den 80ern schließlich SPD-Mitglied wurde. Lafontaine war 1985 Ministerpräsident geworden. Ein Jahr später machten in Völklingen die Hochöfen dicht, heute ragen sie als rostiges Kulturerbe in den Himmel. Eine unter Lafontaine gegründete Stahlstiftung fing die Arbeitslosen auf und half später auch Saarstahl aus dem Konkurs.
Wie Lafontaine ist Klaus Degen heute nicht mehr in der SPD. Vor fünf Jahren ist er ausgetreten, wegen der Agenda 2010, „dieser ganzen unsozialen Politik“. Sein Ortsratmandat hat er noch abgesessen, dann war Schluss. Als die große Koalition vor zwei Jahren auch noch die Rente mit 67 beschließt, tritt er der Linkspartei bei. „Wer kann in der Schwerindustrie bis Siebnsechzisch arbeiten?“
Kein Agenda-Fan
Auch sein Bruder Norbert ist kein Fan der Agenda 2010. Und auch nicht der Politiker, die sie durchgesetzt haben: Schröder, Steinmeier, Müntefering. Aber dass Lafontaine 1999 in der Bundesregierung alles hinschmiss und 2004 der Saar-SPD die Wahlen versaute, dafür hat er nur ein Wort übrig: „Verräter“.
Norbert Degen sitzt in einem Reisebüro in der Völklinger Innenstadt, im Regal stehen Prospekte über Griechenland, Nordamerika, Australien. Es ist sein Reisebüro. Schwimmmeister hatte er zunächst gelernt, aber das war ihm zu wenig. Er macht auf dem zweiten Bildungsweg Abitur, studiert Sozialwissenschaften in Duisburg, schließlich eröffnet er das Reisebüro. Er reist selbst viel, in den Oman, nach Malaysia, Israel, den Jemen.
Norbert Degen trat etwas früher als sein Bruder in die SPD ein, 1980 war das. Auch er war damals ganz auf der Linie von Brandt-Enkel Lafontaine, der sich mit seiner Antihaltung zu den Pershing-II-Raketen gegen Kanzler Helmut Schmidt profilierte. Es seien die alten sozialdemokratischen Werte, denen er sich immer verbunden gefühlt habe, sagt Norbert Degen: Frieden, gerechte Löhne, soziale Sicherung, Bildungsgerechtigkeit. Sein Bruder ist wegen der Agenda 2010 gegangen. Norbert ist geblieben, trotz der Agenda 2010. Es könnten doch nicht alle austreten, nur weil die Oberen nicht mehr auf die Basis hörten. „Ich bin die SPD“, sagt er.
Aber auch er hat schon mal darüber nachgedacht, die Partei zu verlassen. Nach einer verlorenen Kommunalwahl 2004 wurde er als Fraktionschef im Stadtrat abgesägt. Er ist trotzdem geblieben, in der SPD und im Rat. Aber zu leicht will er es den Genossen nicht machen.
Ein Montagabend Anfang August, SPD-Spitzenkandidat Heiko Maas besucht Völklingen. Gekommen sind vor allem Lokalpolitiker, Funktionäre, Honoratioren, vielleicht 70 Leute. Das normale Volk ist kaum vertreten in dem nagelneuen Kongresszentrum einer Klinik. Norbert Degen schimpft: Auf den Marktplatz hätte der Heiko sich stellen sollen, anstatt sich hier zu verstecken! Maas spricht über den notwendigen Strukturwandel, über erneuerbare Energien, Nanotechnologie, künstliche Intelligenz. Vieles findet Norbert Degen nicht falsch. Nur: Was hat das mit Völklingen zu tun? Hier ist eine Perspektive jenseits der Stahlindustrie nicht zu erkennen. Und auch die hat wieder Probleme bekommen, seit Januar fährt Saarstahl Kurzarbeit.
Lauten Applaus bekommt Maas von Norbert Degen an diesem Abend nur einmal: als der gegen Dumpinglöhne wettert und den Mindestlohn fordert. Am Tag darauf bespricht Degen mit seinem Ortsverein, dass man nun doch endlich in Saarbrücken die Wahlplakate abholen müsse.
Sein Bruder Klaus Degen hat am nächsten Tag Urlaub. Statt im Stahlwerk zu schwitzen, steht er auf dem Markt und sammelt Unterschriften für Lafontaine. Seine Mitstreiter tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Ich wähle Oskar“, schwenken rote Parteifahnen. „Die Politiker wissen nicht mehr, was unna los is“, sagt Klaus Degen und schaut ein bisschen wie auf einem seiner früheren Boxbilder. Er hat dort die Deckung unten, den Gegner herausfordernd, so wie es Muhammad Ali gern gemacht hat. Klaus war immer der bessere Kämpfer.
Müller und die Bierkönigin
Es gibt noch einen Grund, warum Norbert Degen bei der SPD bleibt, aber der scheint ihm etwas unangenehm zu sein. Die beiden Brüder sitzen am Abend gemeinsam beim Pils in der „Hüttenschänke“, einer der Traditionskneipen der Stadt. Er sei ja Geschäftsmann, sagt Norbert Degen irgendwann, und ein Linksparteiler sei bei konservativen Kunden unten durch. Das Saarland ist bodenständig. CDU-Ministerpräsident Peter Müller lässt die Bierkönigin und den Grillweltmeister für sich werben. Für manche hier ist die Linke fast so schlimm wie die NPD. Da ändert es auch nichts, wenn selbst die FAZ schreibt, dass der Linken-Landesverband im Gegensatz zu anderen nicht von „Linkssektierern, Trotzkisten und früheren DKP-Kadern“ geprägt sei, sondern ein „Sammelbecken früherer SPD-Genossen und immer noch aktiver Gewerkschafter“.
Was passiert, wenn die Kunden nicht mehr kommen, kann Degen mit einem Blick aus seinem Büro sehen. Der Laden gegenüber ist mit Brettern verrammelt. So sieht es hier an vielen Stellen aus, Völklingen schrumpft, nur noch knapp über 40.000 Menschen leben hier. Der Kaufhof steht schon seit zehn Jahren leer.
Geschäftsmann der eine. Stahlarbeiter der andere. SPDler der eine. Ein Linker der andere. Und trotzdem eint die Brüder mehr, als sie trennt. In vielem kämpfen sie für dieselben Ziele, das gilt auch für die Kommunalpolitik. Die Stadtwerke zum Beispiel, die sollten ihre Preise für Strom und Gas endlich senken, finden sie. Es ist ein bisschen wie bei ihren Sparringskämpfen im Boxen. Da sei es zwischen den Brüdern immer zur Sache gegangen. Aber nie ging einer k. o. Sie sind keine Gegner und erst recht keine Feinde. Ihr Gegner ist die CDU, die in Völklingen gerade den Oberbürgermeister stellt. Und der Feind ist die NPD, die zwei Sitze im Stadtrat hat.
Anfang Juni hat Klaus Degen bei den Kommunalwahlen als Spitzenkandidat für die Linke 17,9 Prozent geholt, Norbert Degens SPD bekam 31,1 Prozent. Mit den Grünen reicht das für eine Mehrheit im Stadtrat. Es gibt ein Foto vom Wahlabend im Rathaus. Klaus und Norbert schütteln sich die Hände, grinsen, als wollten sie sagen: Hauptsache, es bleibt in der Familie. Man kann sich vorstellen, wie sie gemeinsam zu lachen anfangen. Ihr Barney-Geröllheimer-Lachen.