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Archiv-Artikel

Schreiben, um sich den Ort anzueignen

ACHTUNDSZECHZIGERLITERATUR Der Autor Bernd Cailloux stellte im Literarischen Colloquium Berlin seinen Roman „Gutgeschriebene Verluste“ vor

Seine Stimme klingt genauso wie die der Romanvorleser im Radio

2005 war „Das Geschäftsjahr 1968/69“ erschienen. Der Roman erzählt von jungen Hippieunternehmern, die Diskotheken psychedelisch mit Stroboskopanlagen ausrüsten, viel Geld verdienen und später scheitern. Neben „Die Reise“ von Bernward Vesper ist das gänzlich unsentimentale „Geschäftsjahr“ der vielleicht beste deutsche 68er-Roman. „Gutgeschriebene Verluste“ ist eine Art Fortsetzung.

Das Buch spielt 2005 und erzählt, wie der ehemalige Hippieunternehmer als ewiger Single mit Neigung zur seriellen Monogamie tagtäglich in einem Café in der Goltzstraße sitzt und Zeitung liest, zurückdenkt an die möglicherweise große Zeit von 1978, wie er, mittlerweile knapp 60, sich noch einmal verliebt.

Verschiedene Liebesgeschichten und Zeitebenen werden miteinander verknüpft, die Subkultur der späten 60er noch einmal beschworen. In einer großen Passage des Romans, die in ihrer Schärfe ein bisschen an die berühmte FAZ-Empfangspassage aus Rainald Goetz’ „Loslabern“ erinnert, erzählt Bernd Cailloux, wie der Held auf einer Podiumsdiskussion über 1968 zusammen mit Peter Jürgen Boock auf dem Podium sitzt; wie dem ehemaligen RAF-Terroristen Bewunderung entgegenschlägt, während sich der ehemalige Hippieunternehmer, dem als Andenken an den Drogenkonsum der wilden Zeit eine Hepatitis-C blieb, ein bisschen überflüssig fühlt.

Unter der Überschrift „Autobiografiefiktionen“ und moderiert von Hubert Winkels, stellte Cailloux seinen Roman am Donnerstag im Literarischen Colloquium vor. Man sprach über den Gattungsnamen – „roman mémoire“ – den Cailloux seinem Buch, eher aus einer Laune heraus, gegeben hat. Während die Autobiografie an den „Wahrheitspakt“ gebunden sei, gelte für den „roman mémoire“, eine im 18. Jahrhundert beliebte Gattung: „Es ist nicht alles erfunden.“

Ganz klassisch unterschied der Schriftsteller noch einmal die 68er-Spaltung in Politik- und Subkulturfraktion, in „SDS oder LSD“. Dann las er eine Anfangspassage des Romans, die von den „Übriggebliebenen“ (68ern), den „Märtyrern des Müßigganges“ handelt, die auf ewig im Café sitzen. Seine Stimme klingt genauso wie die der Romanvorleser im Radio. Vorgelesen kommen die lustigen Stellen besser zur Geltung. Ein wenig sprach man noch über den kulturellen Aufbruch von 1978, über die Neue Deutsche Welle, die Neuen Wilden. Die taz, die 1978 gegründet wurde, auch um die 68er-Fraktionen noch einmal zusammenzuführen, wurde dabei komischerweise vergessen.

Die Stadt, in die er 1976 zog, sei ihm immer noch oft fremd, sagte Cailloux. Sein Schreiben wäre ein Versuch, sich den Ort anzueignen. Dann las er noch eine Liebesbeziehungspassage, die vorgelesen besser klang als selbst gelesen.

Als man dann schon aufbrechen wollte, meldete sich noch ein Zuschauer zu Wort, um ein politisches Statement abzugeben. Irgendwas mit Bolschewismus und dass die 68er doch dies und das gewesen wären. Ich hörte nicht mehr zu, weil es so entnervend klang und nichts mit dem Buch zu tun hatte. Später sagte Cailloux, das wäre Kiev Stingl gewesen, mit dem er zusammen im Hamburg der 70er Jahre die Zeitschrift Boa Vista gemacht hatte, der in den 80ern dann als Punk-Dichter galt und mittlerweile möglicherweise zu den Rechten übergelaufen sei.

Dann standen wir draußen, rauchten und unterhielten uns über die Verleihung des Berliner Literaturpreises an Rainald Goetz und darüber, wie großartig Goetz gelesen hatte. Ich sagte, dass ich ein bisschen traurig war, als das Buch zu Ende war und es besser gefunden hätte, wenn es 600 Seiten lang gewesen wäre. Cailloux antwortete, er hätte durchaus noch genug Stoff für ein längeres Buch gehabt, aber auch so schon vier Jahre dran geschrieben und keine Lust gehabt, noch mehr Jahre daran zu arbeiten. DETLEF KUHLBRODT

■ Bernd Cailloux: „Gutgeschriebene Verluste“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 271 Seiten, 21,95 Euro