Der Unvollendete

POP Besessen, rastlos, perfektionistisch: Was hätte aus Arthur Russell alles werden können! Eine Erinnerung an einen flammenden Musiker aus Anlass seines Todestages

„Es ist dieser Soul in all seinen Stücken, unheimlich viel Herzblut, man hört das sofort“

US-MUSIKER CHRIS TAYLOR

VON CHRISTOPH DORNER

Vor 20 Jahren, am 4. April 1992, ist der Musiker Arthur Russell in New York einer Aidserkrankung erlegen. In Wahrheit ist der Cellist, Komponist von Minimal-Music-Werken, Discoproduzent und Pop-Visionär aber schon einen Tag zuvor gestorben, als die Kassette in seinem Walkman zum letzten Mal durchgelaufen war nämlich.

Ein Musikbesessener. Zu Lebzeiten saugt er nicht nur den Sound New Yorks ein. Ziellos wandert Russell täglich mit seinem Walkman durch die Straßen der Stadt. Russell besitzt Abertausende Kassetten mit eigenen Songs, Demos und Mixen, die er dabei hört. Ständig vergleicht er die Aufnahmen und ändert sie ab. Russell war lost in music. Als er stirbt, er wird nur 40 Jahre alt, ist er als Musiker allerdings fast vergessen. Doch das hat sich längst geändert: Geschätzt wird Russell inzwischen für seine Minimal-Music-Etüde und für seine auch heute noch flammenden Discotracks, die er Ende der Siebziger einspielte.

„Ein Jammer, dass er zu Lebzeiten nicht die Anerkennung bekommen hat, die er verdient gehabt hätte. Es ist dieser Soul in all seinen Stücken, unheimlich viel Herzblut, man hört das sofort.“ Der das sagt, ist der 30-jährige US-Musiker Chris Taylor, Mitglied der Band Grizzly Bear. Ein gemachter Indiemann, erfolgreich, beliebt. Fast teilnahmslos absolviert er einen Interviewmarathon für sein Soloalbumdebüt. Erst als die Sprache auf Arthur Russell fällt, wird er euphorisch. Und so wie Taylor denken viele junge Künstler über Russell.

Chris Taylor steht so im Banne von Russells Musik, dass er sogar an der Restaurierung unveröffentlichter Russell-Songs für die Compilation „Love Is Overtaking Me“ mitwirkte.

Taylor verschweigt dabei einen zentralen Punkt: Arthur Russell, der in den Achtzigern mit der New Yorker Avantgarde um Philip Glass und Robert Wilson genauso kollaborierte wie mit der Downtown-Dancefloor-Szene, stand sich selbst am meisten im Weg. Nach eigener perfektionistischer Vorstellung hat er nicht ein einziges fertiges Musikstück veröffentlicht. Vergleichbar mit Pablo Picasso, der keines seiner Bilder fertigmalen wollte.

Mit Russell zu arbeiten sei sehr kompliziert gewesen, sagen sogar seine Weggefährten. Es gibt eine Anekdote aus Russells Kindheit, die er in Oskaloosa im US-Bundestaat Iowa verbracht hat. Zu finden in der vorzüglich recherchierten Biografie „Hold On To Your Dreams“. Danach hat Russell nachts heimlich Boxen in das Schlafzimmer der Eltern geschoben, um ihnen mit einer leise abgespielten LP der Rolling Stones etwas vom rebellischen Habitus der Gegenkultur ins Unterbewusstsein einzuflößen.

Russell sei ein introvertierter Junge gewesen, bei seiner Identitätssuche lief er direkt von Vaters Strawinsky-Alben zu John Coltrane über. In seiner Jugend wandelte Russell, dessen Gesicht von schwerer Akne zerfurcht war, zunächst auf den Spuren der Beatgeneration. Mit 16 floh er mitsamt seinem Cello nach San Francisco, wo er sich bald einer buddhistischen Kommune anschloss, um nicht nach Iowa zurückgeschickt zu werden.

Das libertäre Westcoast-Milieu und die Studien indischer Klassik und moderner Kompositionstechnik befruchten in den späten Sechzigern Russells Cello-Spiel. Wegen seines Faibles für die sonore Akustik zieht sich Russell damals zum Spielen gern in einen Kleiderschrank zurück. 1970 begegnet er Allen Ginsberg. Mit ihm unterhält er eine lebenslange musikalisch-literarische, zwischenzeitlich auch erotische Beziehung. Ginsberg war es auch, der ihn 1971 ins Studio nach New York mitnimmt, wo Russell auf Bob Dylan trifft. Dessen Entdecker, der Talentscout John Hammond, stuft Russells Folk-Ästhetik und den Bubblegum-Pop mit seiner Band Flying Hearts allerdings als „zu gekünstelt“ ein, leider.

Russell lässt sich davon nicht aufhalten. „New York is where it’s happening“, lässt er die Eltern 1973 wissen, da ist er gerade in Ginsbergs Apartment im East Village eingezogen und hat erste Auftritte absolviert.

Das Manhattan jener Jahre ist bis heute die Referenzfolie der Hipster. Rezession und Stadtflucht der weißen Mittelschicht hatten den Stadtbezirk entvölkert. Mit dem Zuzug weißer Künstler, Musiker und Schriftsteller bildete sich eine popkulturelle Salatschüssel, die zwei stilbildende Szenen formte: den fiebrigen Punk-Underground mit Television, den Ramones und Patti Smith. Und die schwarze, oft schwule Utopie des Tanzens, die Disco als Stil, Ort und Prinzip etablierte und einen Ausdruck in legendären Loft-Partys fand, die auch Russell besuchte.

Arthur Russell ist in beiden Szenen zu Hause, Ausdruck seiner rastlosen Identitätssuche. Als Programmdirektor des Auftrittsorts The Kitchen öffnet er das Konzept dieser Herzkammer der New Yorker Avantgarde und lässt dort 1975 die Modern Lovers auftreten. Mit David Byrne nimmt er 1978 nach seinen gescheiterten Pop-Experimenten unter dem Pseudonym Dinosaur L den fabelhaften Discotrack „Kiss Me Again“ auf und gründet 1982 das Dance-Label Sleeping Bag Records.

Eine Version von Russells Protohouse-Track „Is It All Over My Face?“ taucht jüngst wieder auf einer Kompilation des britischen Labels Soul Jazz über die queere New Yorker Ballroom-Szene auf. Andere seiner Songs, „Go Bang“ oder „Tiger Stripes“, laufen wegen ihrer überwältigenden Physis auch heute an Sonntagen in der Berliner Panorama Bar, der im In- und Ausland geschätzten heiligen Halle des Dancefloor.

Russell selbst war nie ein Tänzer. „I’m watching out of my ear“, singt er auf seinem Album „World Of Echo“ von 1986. Durch seine folkige Klarheit und die zerrenden Cello-Mantras gilt es als Meisterwerk. Russell hatte sich Anfang der Achtziger geoutet und in dem Siebdrucker Tom Lee einen Partner gefunden. Kurz nach der Veröffentlichung von „World Of Echo“ wird bei Russell Aids diagnostiziert. Lee war HIV-negativ.

Steve Knutson von Audika Records verwaltet heute den Nachlass Arthur Russells: schätzungsweise 1.000 Bänder und Kassetten an unveröffentlichtem Songmaterial. Die Geschichte von Arthur Russell sei nach den drei wichtigsten Zusammenstellungen „Calling Out Of Context“, „The World Of Arthur Russell“ und „Love Is Overtaking Me“ sowie dem Biopic „Wild Combination“ im Prinzip auserzählt, meint er: „Ich wollte alle Facetten seiner Musik zeigen, das ist erledigt.“ Aber, Russells unübersichtliches Werk hat in den letzten Jahren eine beachtliche Renaissance erfahren. Dabei ist offensichtlich, dass in der Rezeption dieses Unvollendeten gleichsam eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach coolem Geheimwissen mitschwingt.

Was bleibt von Russell? Am vergangenen Samstag wurden im New Yorker The Kitchen Auszüge aus seinem 48-stündigen E-Zyklus „Instrumentals“ wiederaufgeführt. Und an seinem 20. Todestag werden Arthurs Landing, die hoch gelobte Tribute-Band um die Weggefährten Ernie Brooks, Steven Hall und Peter Zummo, und DJ Brennan Green Interpretationen seiner Stücke in einer Bar in Greenwich Village spielen. Russells Eltern, die seinen Lebensunterhalt immer mitfinanzierten, hatten sein schwieriges Genie in „Wild Combination“ wie folgt beschrieben: „Er hätte noch weit kommen können“, sagt Mutter Emily, worauf Vater Chuck lakonisch antwortet: „Oder Arthur hätte heute noch einmal 5.000 Tapes mehr.“