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Archiv-Artikel

Die menschliche Webcam

COMIC Der französische Autor Lewis Trondheim arbeitet für die grafische Erzählung „Omni-Visibilis“ erstmals mit einem realistischen Zeichner zusammen. Das Experiment ist auf ganzer Linie geglückt

VON WALDEMAR KESLER

Lewis Trondheim gehört als Comiczeichner und -szenarist zu den Erfolgreichsten seines Fachs. 2006 erhielt er für seinen Beitrag zur Kunst des Comics den Grand Prix de la Ville d’Angoulême. Sein Blick auf die Menschen und ihr Treiben ist ebenso desillusioniert wie belustigt. Im Alltagskolorit (wie in der Reihe „Die erstaunlichen Abenteuer von Herrn Hase“) oder im historischen Gewand (wie im Comicroman „Insel Bourbon 1730“) zeichnet er Fabeln, in denen sich die anthropomorphisierten Tiere entweder wie tumbe Berserker oder kindsköpfige Hanswürste gebärden.

Eines Sonntags hatte Lewis Trondheim die Idee zu einer Figur, an deren Erfahrungen die ganze Welt teilhat. Alles, was sein Held Hervé sieht, sehen auch alle anderen auf der Welt, wenn sie ihre Augen schließen. Selbst Blinde sind durch die akustischen und taktilen Eindrücke Hervés mit ihm verbunden. Dadurch wird Hervé in Trondheims soeben auf Deutsch erschienenem Comic „Omni-Visibilis“ überall verortbar.

Nachdem er diese Idee gehabt hatte, setzte sich Trondheim drei Stunden an den Schreibtisch und schrieb eine fünfseitige Synopsis. Das Ergebnis hielt er für wie geschaffen für einen Film, aber schließlich erschien es ihm zu heikel, sich auf solch ein fremdes Terrain zu begeben. Und so verschwand der Entwurf für eine ganze Weile in der Schublade. Zwei Jahre später sagte jemand beim Comicfestival in Angoulême zu Trondheim: „Du hast ja schon einiges gemacht, aber du hast noch nie mit einem realistischen Zeichner zusammengearbeitet. Wenn du das tätest, würdest du sehen, dass du da nicht machen kannst, was du willst. Du müsstest deine Geschichte auf ganz andere Weise als sonst erzählen und würdest sehen, wie schwer das ist.“ So in seinem eigenen Metier infrage gestellt zu werden, packte Trondheim bei seinem Stolz.

Nah an der Wirklichkeit

In Zukunft dürfte ihm niemand mehr so kommen. Trondheim hat erkannt, wie gut realistische Zeichnungen einem fantastischen Szenario wie der Geschichte von Hervé tun. Die Bilder überließ er Matthieu Bonhomme, der als Zeichner nah an der Wirklichkeit bleibt: In Deutschland verbindet man seinen Namen vor allem mit der historischen Abenteuerserie „Der Marquis von Anaon“, in der der besagte Marquis nach rationalen Erklärungen für mysteriöse Ereignisse sucht. Bonhomme vermeidet es in „Omni-Visibilis“ zwar, dass seine Zeichnungen zu sehr zur Karikatur geraten, aber er bewegt sich weit darauf zu. Hervés Schnauzer und seine Pornobrille spielen einen fatalen Doppelpass. Sein erbärmlicher Versuch, eine Bürokollegin anzugraben, und sein krankhafter Hygienetick zeigen ihn vor seiner Verwandlung in keinem günstigen Licht. Die Bilder sind in Schwarzweiß und Hellblau gehalten, was eine eisige Atmosphäre verbreitet, die die Leere von Hervés Leben und dem Leben der anderen noch unterstreicht. Das Szenario verbreitet ein allgegenwärtiges Gefühl der Paranoia. Durch Hervés ständige Bereitschaft zur Flucht nimmt der Ablauf der Geschehnisse enorm an Fahrt auf.

Das Banale der Welt

Als wandelnde Webcam erfüllt Hervé die weltweiten Bedürfnisse des Internetzeitalters: komplett vernetzt zu sein, zeitgleich die Weltereignisse mitzuverfolgen und dabei die Illusion von Unmittelbarkeit zu haben. In typischer Trondheim-Manier offenbart sich auf dem totalen Kanal aber zunächst einmal das Banale und Erbärmliche. Alle Welt hampelt vor Hervés Augen herum, um sich in Szene zu setzen. Restaurantbesitzer tischen Hervé unüblich reichliche und liebevoll zubereitete Mahlzeiten auf, um für sich Werbung zu machen. Seine Freundin legt einen theatralischen Monolog hin, um als Schauspielerin engagiert zu werden. Ein Proll auf der Straße erinnert seine Freunde daran, dass sie ihm noch etwas schulden, weil sie den letzten Rülpswettbewerb verloren haben.

„Omni-Visibilis“ ist der beste Beweis dafür, wie scharfsinnig die derbe Komik der Burleske sein kann, wenn ihr ein virtuoser Autor wie Trondheim den richtigen Rahmen verpasst. Durch den Toiletten- und Ekelhumor, den er immer wieder einstreut, macht er den Lesern Hervé wieder zugänglicher. Schließlich kann man plötzlich wieder mit dem größten Kotzbrocken mitfühlen, wenn er vollständig die Macht über seinen eigenen Körper verliert und gleich die ganze Welt seine Intimsphäre belagert. „Omni-Visibilis“ macht einen verbotenen Spaß, weil wir einer Geschichte zusehen, die uns zeigt, dass wir einfach mal wegschauen sollten.

Lewis Trondheim, Matthieu Bonhomme: „Omni-Visibilis“. PPM Peter Poluda Medienvertrieb, Barntrup 2012, 160 Seiten, 20 Euro