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Archiv-Artikel

„Ich weiß sehr genau, was mir fehlt“

KLANG Helmut Oehrings erste Sprache war die Gebärdensprache, denn seine Eltern konnten nicht hören. Als Erwachsener brachte er sich selbst das Notenlesen bei und wurde einer der gefragtesten Komponisten Deutschlands. Ein Gespräch über die brutale Wucht der Geräusche, Boxen und die zwei Idioten in jedem Orchester

Helmut Oehring

■ Der Mensch: Oehring, 51, wurde in Ostberlin geboren. Als Sohn gehörloser Eltern ist Gebärdensprache seine Muttersprache, Sprechsprache lernt er mit vier Jahren. Später wird er Baufacharbeiter, Totengräber, Nachtwächter und bringt sich das Gitarrespielen bei. Komponieren lernt er autodidaktisch und wird für seine Arbeiten mit vielen Preisen ausgezeichnet.

■ Das Werk: Sein Buch heißt „Mit anderen Augen: Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten“ (btb Verlag). Gerade schreibt er Opern: „Fairy Queen oder Schreie und Flüstern einer Sommernacht“ für die Staatsoper Berlin, „SehnSuchtMEER oder Vom Fliegenden Holländer“ für die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf.

INTERVIEW THOMAS WINKLER

Der Komponist Helmut Oehring behält gern die Kontrolle. Als Sohn gehörloser Eltern entwickelte er schon in jungen Jahren das Bedürfnis, jede Situation beherrschen zu müssen. Über seine Kindheit reden will Oehring aber nicht, er will in den Zeitungen nicht immer nur dieselben Anekdoten lesen über den Komponisten, dessen Muttersprache das Gebärden ist und der erst mit vier Jahren das Sprechen lernte. Die mitgebrachte CD mit Stücken seiner Helden von Schönberg über Eminem und Queen bis Charlie Parker, an denen entlang man sich durch das Gespräch hangeln wollte, will er auch nicht hören. Dann fangen wir eben anders an.

sonntaz: Herr Oehring, hören Sie nicht gerne Musik?

Helmut Oehring: Natürlich höre ich gern Musik. Ab und zu zumindest. Ich muss nur aufpassen, wann.

Warum?

Es gibt Musik, die kann ich kaum hören, weil sie mich umhaut. Letztens, bei der Trauerfeier für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle, da wurde Bach gespielt, ich glaube, das Violinkonzert in a-Moll. Ich habe das im Fernsehen angeschaut und musste den Ton wegmachen, ich konnte das nicht hören. Ich möchte lieber selber bestimmen, wann mich etwas umwirft. Geht natürlich nicht. Es ist wie eine chemische Reaktion, das kann mir die Woche oder einen Monat umschmeißen. Wenn ich zu viel Input bekomme, kann ich selber nicht mehr produktiv sein.

Dann leidet die Arbeit?

Durch diese Arbeit, die ich seit mehr als zwei Jahrzehnten mache, bin ich irgendwie hypersensibilisiert für Klänge und Gestalten, für bestimmte Schlüsselwörter und Bilder in der Musik und außerhalb davon.

Sie haben mal gesagt, Sie würden in Geräuschen denken. Die Wiedervereinigung Deutschlands klang für Sie wie eine verstimmte Bratsche. Wie klingt die heutige Zeit – die Krise, die wir gerade erleben?

In meinem Buch hab ich beschrieben, dass die sogenannte Wiedervereinigung für mich, vereinfacht gesagt, klang, als würde jemand auf eine Bratsche latschen. Die heutigen Zeiten haben einen gewissen unqualifizierten, nicht kontrollierbaren Nachhall von diesem Klang.

Das klingt sehr diffus. Und wie hören Sie den Arabischen Frühling?

Vor allem chaotisch. Hoffnungsvoll und brutal, erfreulich und blutig. Das sind viele Stimmen, zu widersprüchlich, komplex.

Verbinden Sie alles sofort mit Musik?

Musik kann man das noch nicht nennen. Ich glaube, ich bin so eine Art Synästhetiker. Ich kann zwar keine Farben riechen, aber wenn ich etwas sehe oder erlebe, dann entstehen bei mir sofort ein Erzählstrang und dazugehörige Klanggestalten, Wesen. Freunde und Bekannte und auch Fremde … Musik wird das aber erst später durch die Arbeit.

Das ist dann Komponieren.

Für mich ja. Ich weiß nicht, wie das bei anderen Komponisten ist. Aber für mich ist Musik ein Mittel, Geschichten zu erzählen, eine Kommunikationsstrategie. Und ich nutze jedes erdenkliche Mittel, durch das die jeweilige Geschichte im Musiker und Hörer Gestalt wird – wichtig ist mir dabei nicht das, was komponiert wird, sondern das, was durch die Klänge erzählt wird und so das Erleben, Fühlen und Denken verändert.

Und was wollen Sie erzählen?

Die Geschichten, die mich interessieren. Und das sind nicht unbedingt die schönen Geschichten. Sondern die, die auf der dunklen, brutalen, einsamen und kalten Seite der Welt spielen.

Sie haben Krankheitsbilder komponiert, einen Zyklus über den Holocaust-Lügner Ernst Zündel, über das Sterben von Asylbewerbern in Polizeigewahrsam oder auch über die Bilder, die Goya vom Spanischen Unabhängigkeitskrieg gezeichnet hat.

In gewisser Weise bin ich Journalist und Fotograf. So wie ein Maler seine Farbpalette hat, habe ich eine gewisse Grammatik entwickelt, mit der ich die Geschichten dann erzähle. Ein bisschen wie Goya vielleicht, der rausgegangen ist in den spanischen Guerillakampf gegen die Truppen Napoleons und dann das Grauen auf beiden Seiten gezeichnet hat. Er hat dokumentiert, was er gesehen hat, aus seiner Erinnerung. Für uns, die Jahrhunderte danach diese Zeichnungen betrachten und nie wieder vergessen können.

Sie zeichnen mit Instrumenten?

Und elektronischen Klängen. Und es ist immer ein Annäherungsprozess, der nicht mit einer endgültigen Übereinstimmung endet. Ergebnisoffen – unsichtbares Land suchen.

Ist das nicht frustrierend, dass am Schluss nie genau das Ergebnis steht, das man erreichen wollte?

Früher, als ich angefangen habe, war das frustrierend, ja. Da habe ich gedacht, das Orchester spielt falsch, die wollen nicht verstehen. Von diesem Misstrauen und der Angst bin ich krank geworden.

Körperlich krank?

Ich habe Gürtelrose bekommen, am Kopf! Nur weil ich dachte, die sehen und hören nicht, was richtig ist. Ich Idiot wusste da noch nicht, dass dieses Richtig gar nicht existiert. Selbst bei einem Van Gogh oder Francis Bacon gibt es bei zehn Betrachtern elf verschiedene Blickwinkel. Selbst so ein Bild, das, wenn es in einer Galerie hängt, starr und fast unveränderlich ist, erzählt jedem Betrachter seine eigene Geschichte. Bei der Musik potenziert sich das durch die Musiker, die alle mit einer anderen Biografie und unterschiedlichsten Wegen hören.

Auch Sie hören mit einer eigenen Biografie, einer sehr unwahrscheinlichen: Sohn gehörloser Eltern, gelernter Baufacharbeiter, DDR-Wehrdienstverweigerer, nie eine Universität von innen gesehen. Wie kommt so einer ausgerechnet zur Neuen Musik?

Mit 25 ist mir zufällig ein Buch in die Hand gefallen, in dem vor allem noch lebende Komponisten vorgestellt wurden. Ich wusste damals ja noch nicht mal, dass es überhaupt noch lebende Komponisten gibt, von denen viele sogar wie ich in Ostberlin lebten. Dann habe ich versucht, die Sachen auf der Gitarre nachzuspielen, ein paar Noten konnte ich ja. Obwohl ich null Vorbildung hatte, hat mich das sofort angesprochen.

Was genau hat da zu ihnen gesprochen?

Einfach der Klang, die Akkorde, die Melodien. Das Live-Schlüsselerlebnis war „Missa Nigra“, ein Kammerspiel von Friedrich Schenker, das von der damals aktuellen Debatte und den Bau der Neutronenbombe handelte, der dann 1981 von Reagan genehmigt wurde. Die Musiker waren zugleich Darsteller, Sprecher und Sänger, dafür gab es keinen Dirigenten. Die schrien rum, schmissen mit Blut, lasen Texte, musizierten zusammen und jeder für sich. Ein Maler war live mit auf der Bühne im Palast der Republik. Es war unglaublich. Unerhört. Ein Kosmos, ein Universum von Klängen. Weltpolitik, die da vor mir explodierte. Da dachte ich: Dit isses. Darauf habe ich gewartet. Das ist meine Welt. Kampf gehört zur Kunst.

Jeder andere in Ihrer Situation hätte in dieser Zeit, den frühen achtziger Jahren, so ein Erweckungserlebnis wohl eher mit Punkrock erlebt.

Punk als Haltung hat mich auch interessiert, vor allem der Sound, dieses Archaische, Billige. Straßenmusik. Aber musikalisch? Auf die Bühne kotzen? Nur zwei Griffe zu können, ist ja okay, aber ich sehne mich nach mehrdimensionalem Input von demjenigen, der mich anbrüllt.

Und andere Rockmusik?

Habe ich alles durchgeklimpert. Wolf Biermann, Bob Dylan, Pink Floyd, Jimi Hendrix, Frank Zappa, und dann bin ich zum Jazz gekommen, Miles Davis, Charlie Parker. Dann die Klassik, Bach, Vivaldi, irgendwann bin ich bei Brahms und Schubert, dann bei Schönberg und Bartok gelandet. Aber all diese Musik, gerade die Rock- und Popmusik, so viel mir die damals auch bedeutet hat, war mir nie genug. Ich hab schon damals gespürt: Dieses redundante Am-Quintenzirkel-Entlanggehen langweilt mich, ohne dass ich gewusst hätte, wie man das Wort „Quintenzirkel“ schreibt und was der bedeutet. Die Welt ist nicht nur rund, sie erzählt gleichzeitiger und in mehreren Schichten, sie ist voll polyphoner Verästelungen und Nebelschwaden.

Popmusik macht diese komplizierte Welt schön einfach. Mit Melodien und Rhythmen, die immer wieder funktionieren.

Irgendwann ging mir das tierisch auf den Sack. Als ich das erste Mal Bach gehört habe, fand ich „Wish You Were Here“ zwar nicht scheiße, aber ich wusste sofort, dass es etwas Größeres gibt, das reicher ist und viel mehr spricht und durch die Jahrhunderte nicht an Kraft verloren hat. So eine Matthäuspassion oder Kunst der Fuge von Bach ist erstaunlicherweise in der Lage, mit der Zeit zu wachsen und immer wieder etwas mitzuteilen.

Trotzdem interessiert die Massen eher die Rockmusik als die elitäre Neue Musik.

„Vom Boxen kann man lernen, wie man damit umgeht, verletzt zu werden“

Das ist ein Klischee – es gibt keinen Elfenbeinturm. An dieser Mär bauen vor allem diejenigen, die einen Grund brauchen, sich nicht mit dieser aktuellen Musik auseinandersetzen zu müssen. Was die da spielen, das versteh ich nicht, sagen sie, und sind dann fein raus. Und können weiter Coldplay oder Radiohead hören. Oder Udo Lindenberg.

Was haben Sie gegen Lindenberg?

Nichts. Der ist klasse. Allet dufte. Ich war stolz, als ich endlich seinen geilen Song „Da war so viel los“ auf der Gitarre drauf hatte. Radiohead hab ich in einer meiner Opernarbeiten zitiert. Ab und zu schau ich mir auch Florian Silbereisen an.

Und was stellen Sie fest?

Dass die Reaktionen, oberflächlich betrachtet, auch keine anderen sind als bei Konzerten der sogenannten Neuen Musik.

Ach?

Die meisten Konzerte mit Neuer Musik, die ich erlebe, sind rappeldickevoll. Und immer sind die Besucher berührt, entsetzt, angetan, bereichert oder glücklich, dass sie das erlebt haben. Ich habe noch nie ein Konzert erlebt, nach dem gesagt wurde: Das war scheiße, weil ich es nicht verstanden habe. In Donaueschingen sitzen der ehemalige Minister Gerhart Baum, der ein Kenner der Neuen Musik ist, neben der Schulklasse aus der Gegend, Opa und Oma von umme Ecke sitzen neben weitgereisten Spezialisten und hören sich drei Tage Uraufführungen an. Wahnsinn! Wo gibt’s das denn sonst?

Klingt ziemlich idyllisch. Aber ganz so friedlich geht es in der Neuen Musik ja nicht zu – auch Sie selbst sind umstritten.

Einige vermissen eventuell in meinen musikalischen Bemühungen den musiktheoretischen Standard, den man eigentlich erfüllen sollte, wenn man diese Art Musik komponiert. Ich habe ja auch selber das Gefühl, ich mache eigentlich weiter Rockmusik. Aber damit stehe ich immer zwischen den Stühlen: Den einen ist es nicht seriös genug komponiert, den anderen ist es zu wenig rockig. Aber ich bin ja kein Oberkellner. Ich mach mein Ding. Eine Art Zeichensprache und Stummheit auf der Bühne. Die zentralen Solistenpositionen sind ab und zu Gehörlose. Und wenn die dann singen, reißt das inmitten der Kunstmusik ganz andere Abgründe auf.

Trotzdem haben Sie großen Erfolg. Wie erklären Sie sich das?

Zuerst einmal hatte ich großes Glück, immer auf Menschen zu treffen, die erkannt haben: Der hat was zu erzählen und irgendein Talent, Klangszenen zusammenzufügen, die sprechen und auch eigenartig fremd sind. Und heute empfinde ich es als Geschenk, dass ich nicht wie viele andere Komponisten die Klassiker bereits im Studium eingeatmet habe.

Warum?

Ich musste sie mir immer erst auf dem dritten oder vierten Bildungsweg neu erarbeiten. Gerade lerne ich Wagner kennen, weil ich auf Grundlage des „Fliegenden Holländers“ eine Oper zu Wagner und Heine komponiere. Weil ich diese alten Meister jetzt für mich neu entdecke, ist das Ergebnis auch aufregend für die Musiker und die Zuhörer: Ich komme wie ein Fremder und blicke auf eine Welt, die scheinbar zu gut bekannt ist.

Wie verrückt waren Sie damals, als Autodidakt komponieren zu wollen?

Ich habe nicht im Mindesten gewusst, was ich da tue. Aber ich war unaussprechlich aufgeregt. Es war ein Abenteuer. Ein Geheimgang. Unbeschreiblich und existenziell. Selbst der erste Kuss hält dem nicht stand. Ich habe gespürt, das wird mein Leben verändern. Aber ich habe damals ja nicht daran gedacht, dass ich Komponist werden könnte. Vor Kurzem hat jemand gesagt, ich stehe in einer Reihe mit Schönberg, Nono, Eisler … Hey, das sind die Götter und Zauberer der Musik. Da sehe ich mich natürlich nicht, ich weiß sehr genau, was mir fehlt – genauer als die, die mich scheiße finden.

War das auch Revolte gegen die gehörlosen Eltern – ausgerechnet Musik?

Es war eher Notwehr. Endlich einen Bereich zu finden, der mir gehört. Dem ich gehören darf.

Was haben Ihre Eltern gesagt: Lern’ doch erst mal was Anständiges?

Ja, klar. Ich hab mit Baufacharbeiter ja auch was Anständiges gelernt. Aber meine Eltern hätten gern gesehen, wenn ich dabeigeblieben wäre. Sie konnten nichts damit anfangen und ich habe ja anfangs auch nix damit verdient.

Stimmt es, dass Ihre Eltern nie eines Ihrer Stücke gesehen haben, obwohl Sie ja oft ausdrückliche Elemente für Gehörlose wie Gebärdensprache einbauen? Das Sie das nicht wollten?

Ja, als ich anfing, Musik zu schreiben, war ich aus ihrer Welt herausgefallen. Sie haben zwar gesehen, dass ihr Sohn glücklich ist damit. Das spürt eine Mutter, auch wenn sie selbst die Musik nicht hören kann und nicht daran teilhaben kann. Das war trotzdem schmerzhaft für meine Eltern, aber das habe ich damals verdrängt. Jetzt hätte ich vielleicht die Kraft, mich damit auseinanderzusetzen. Aber jetzt sind sie tot. Mein Vater schon lange, meine Mutter ist im letzten Jahr gestorben. Sie fehlen mir beide.

Ihre Eltern haben sich verbieten lassen, zu einem Ihrer Stücke zu gehen?

Da hab ich gar nicht diskutiert. Ich kann sehr deutlich klarmachen, was Fakt ist. Das ist antrainiert von Kindesbeinen an. Als Coda-Kind …

so nennt man hörende Kinder gehörloser Eltern …

… ist man in einer wichtigen und dominanten Funktion in der Familie. Da ist man nicht nur Kind, sondern übernimmt durch die Übersetzerfunktion eine bestimmende, regelnde Rolle, die ich auch manchmal ausgenutzt habe. Diese Art von, sagen wir mal, Führungsqualitäten, die man zuerst quasi auferlegt bekommt, die nehmen irgendwann ein Eigenleben an. So ist das sicher bei allen Coda-Kindern. Wir sind Kontrollfreaks, weil wir von klein auf gezwungen waren, Situationen zu kontrollieren, um die Familie zu schützen. Zu anderen Zeiten war das überlebenswichtig. Meine Eltern waren in bestimmten Situationen fast wie meine Kinder.

Musik ist Teamarbeit. Haben Sie damit Probleme?

„Ich wusste damals ja noch nicht mal, dass es überhaupt noch lebende Komponisten gibt“

Mittlerweile bin ich ein ganz Süßer. Aber früher habe ich geglaubt, als Autor wäre ich automatisch auch der Bestimmer.

Mit welchen Folgen?

Das ging natürlich schief. Da gab es böse Auseinandersetzungen mit Orchestern und Ensembles, das sind schließlich Vollprofis und ich war ein dämlicher Anfänger. Aber heute habe ich großes Vertrauen, das muss und möchte ich ja auch. Teamwork und autonomes Arbeiten in der Gruppe liebe und lebe ich. Aber in fast jedem Orchester gibt es – wie im Fußballklub, wie in der Klasse früher – ein oder zwei Idioten. Die blödeln dann rum, machen den Dirigenten nach, die Damen fangen an zu kichern. Hochbezahlte Spezialisten, aber es geht zu wie auf Klassenfahrt.

Was tun Sie in einem solchen Fall?

Das schau ich mir eine Zeit lang an, dann geh ich hin zu denen und sag was Ähnliches wie: Noch so’n Ding, Augenring. Setz ich dann natürlich nicht in die Tat um … Ich fühle mich nicht wohl damit, aber drohen muss ich, um mein Baby zu schützen.

Da sind wir bei Ihrer zweiten großen Leidenschaft, dem Boxen.

Ja, der Boxer und der Komponist, beide Einzelkämpfer. Vom Boxen kann man lernen, wie man damit umgeht, verletzt zu werden. Dass Konzentration und harte Arbeit der Kunst vorausgeht, dass man Disziplin braucht, um die Tiefen zu überstehen. Da lerne ich als Komponist viel vom Leistungssport. Intuition trainieren und die Energien der anderen zu verwandeln. Komponisten sind so eine spezielle Art Profiler. Das muss ein Boxer auch beherrschen: sich in den Anderen, sein Gegenüber, hineinzuversetzen …

Eine andere Parallele: Der Gebärdende und der Boxer sprechen ja beide mit ihren Händen. Spricht so ein Boxer im Ring in für Sie verständlichen Sätzen?

Eher nicht. Aber ich habe Freude daran, dass da zwei, die sich in hartem Training eine Grammatik aus Schlägen und Finten, aus Schritten und Bewegungsmustern zugelegt haben, nun im Ring in einen Dialog treten. Für mich ist Boxen stilisierte Kommunikation – und hat eine große Nähe zur improvisierten und konzipierten Musik, zum Modernen Tanz. Darüber hinaus ist es natürlich auch gesellschaftspolitisch interessant. Musik und Boxen können beide wie ein Rausch sein, der alle Zuschauer und Zuhörer bis in ihre kleinste Zelle berührt.

Haben Sie jemals mit Boxern oder Boxtrainern versucht, über so etwas zu reden?

Ich bin Anfang der Neunziger Jahre eine Zeit lang zum Boxtraining gegangen. Ich habe keine Kämpfe gemacht, nur trainiert. Aber dort durfte ich feststellen, was ich schon geahnt hatte: Man kann sich mit den meisten Boxern nicht wirklich anregend über das Boxen als artifizielle Sprache unterhalten. Aber was Sie überraschen könnte: Man kann sich auch mit den meisten Musikern, abgesehen von den Einzelkämpfern, nicht wirklich anregend über Bach, Schubert, Parker, Schönberg, Eminem oder Nono unterhalten.

Kann man nicht?

Jetzt muss ich aufpassen, was ich quatsche. Na ja, vielleicht liegt es in der Natur der Sache: Orchestermusiker sind hochspezialisierte Wesen. Notentiere. Klangfresser. Wie edle Rennpferde. Von denen wissen auch nur die wenigsten, warum sie im Kreis herumlaufen. Aber es sieht schön aus und berührt einen dann doch.

Thomas Winkler, 47, lebt als freier Journalist in Berlin und schreibt regelmäßig für die sonntaz. Er wünscht sich manchmal, er könnte Musik sehen