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Archiv-Artikel

Als Hans Rosenthal Bauer werden wollte

KIBBUZ BRANDENBURG Erst Landwirtschaftsschule für jüdische Auswanderer nach Palästina, dann Arbeitslager. In Neuendorf erinnert der Verein Landkunstleben an die wechselvolle Geschichte des dortigen Gutshofs

Neuendorf kam wegen besitzrechtlicher Probleme erst 1941 unter die Aufsicht eines SS-Offiziers

VON HELMUT HÖGE

1918 erwarb der Berliner Geschäftsmann Hermann Müller den Gutshof in Neuendorf im Sande, das bei Fürstenwalde liegt. Denn nach der Novemberrevolution durften Juden Land kaufen und Landwirtschaft betreiben. Viele erlernten die Landwirtschaft, um für ein zukünftiges Leben in einem der Kibbuzim in Palästina gerüstet zu sein. So wurde 1932 auf dem 245 Hektar großen Anwesen eine Landwirtschaftsschule eingerichtet, in dem Juden sich auf die Auswanderung vorbereiteten. Es gab damals rund 26 solcher Hachscharas (hebr. für „Vorbereitung“).

Am Wochenende wurde in Neuendorf im Sande eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte des dortigen Gutshofes eröffnet. Als 1933 die Diskriminierung der Juden zunahm, gründete sich in Charlottenburg die „Jugend-Alija“ (hebr. für „Rückkehr ins Gelobte Land“), sie übernahm die Betreuung der Neuendorfer „Hachschara“. Gemäß des „Chaluz“-Ideals (hebr. für „Palästina-Pionier“) sollten die „Schüler“ dort nicht nur eine Agrarausbildung bekommen. Sie war nicht nur Voraussetzung für ein englisches Sonder-Einreisevisum nach Palästina, die Schüler sollten vielmehr das Bauern-Werden als Berufung begreifen – und gleichzeitig das Leben in einem Kollektiv lernen. Als Lehrerin wurde die Montessori-Pädagogin Clara Grunwald engagiert.

In Neuendorf sind dazu jetzt Fotos von Herbert Sonnenfeld aus dem Jahr 1934 zu sehen. Pioniercamps zur Vorbereitung auf ein Leben in Palästina gab es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts – nach jedem Pogrom, kann man vielleicht sagen. Den ersten „Kibbuz“ (das Wort stammt von dem galizischen Dichter Jehuda Ja’ari) gründeten weißrussische Juden 1910 am See Genezareth.

Eine Vorform des Kibbuzes war die russische Dorfgemeinde (Obschtschina), die bereits kollektiv wirtschaftete und auch so besteuert wurde. Ab 1917 wurden daraus – ebenso wie aus den Kibbuzim – partisanische Wehrdörfer. Aber dann begannen die Bolschewisten, die Dörfer staatlich zu durchdringen. Ihre „Zwangskollektivierung“ war eine Dekollektivierung. Zuletzt – während der „Perestroika“ (Umbau) – riet der letzte Generalsekretär Michail Gorbatschow den inzwischen völlig demoralisierten Kolchosen, sich wie die israelischen Kibbuzim zu rekollektivieren. Damals aber befand sich die israelische Kibbuz-Bewegung bereits selbst in einer Krise: Immer mehr Kollektive lösten sich in Geschäftsbereiche und Kleinfamilien auf.

Das Gut Neuendorf übernahm nach 1933 die „Schüler“ aus drei benachbarten „Hachschara“. Die anderen etwa 22 Pionierlager mussten dem „Reichsarbeitsdienst“ übergeben werden. Neuendorf kam wegen besitzrechtlicher Probleme erst 1941 unter die Aufsicht eines SS-Offiziers in Fürstenwalde. Aus der Hachschara war inzwischen ein Zwangsarbeitslager geworden. So musste etwa ihr „Schüler“ Hans Rosenthal, der spätere TV-Entertainer, als Friedhofsgärtner arbeiten. Ihm gelang die Flucht in eine Schrebergartensiedlung bei Lichtenberg, wo er überlebte. Der letzten Leiterin der Jugendalija, Elli Freund, gelang 1935 die Ausreise nach Palästina, wo sie als Ärztin arbeitete. Als Rentnerin zog sie später zurück nach Berlin. Der letzte Transport aus Neuendorf 1943 ging nach Auschwitz, Clara Grunwald begleitete die ihr anvertrauten Kinder – in den Tod. In Auschwitz wurde wenig später auch der letzte jüdische Gutsverwalter, der Gartenfachmann Martin Gerson, umgebracht.

Nach dem Krieg machte die DDR aus Neuendorf ein „Volksgut“. Dessen letzter Verwalter, Georg Weilbach, brachte im „Perestroika“-Jahr 1988 eine Tafel am Schlossgebäude an, die an die Hachschara-Zeit erinnert. Er ist inzwischen gestorben, seine Frau Ruth erforscht seitdem diesen Teil der Gutsgeschichte weiter.

Nach 1945 gründeten sich erneut einige Hachscharas in Deutschland (u. a. bei Fulda) – zumeist von Überlebenden aus den KZs. Wieder ging es darum, sich auf eine neue Existenz in Palästina vorzubereiten. Die letzte „Alija“ (Einwanderungswelle) kam seit Ende der Achtzigerjahre aus den USA und Russland.

„Hachschara – revisited“ wird von der Gruppe „Landkunstleben“ aus Buchholz organisiert. Sie bewirtschaftet ansonsten den Schlossgarten in Steinhövel künstlerisch. Zu ihrer Veranstaltung in Neuendorf gehören auch einige Kunstprojekte. Jörg Schlinke steuert zum Beispiel eine „Erdskulptur“ zum Thema bei. Claudius Wachtmeister stellt am Feldrand ein Bauschild auf, das die Entstehung eines „Hauses der Pionierinnen“ ankündigt. Im Buswartehäuschen baut er einen Stand auf, wo Obst und Gemüse aus Israel angeboten wird. Und in der Gutskantine zeigt er Dias mit bearbeiteten Fotografien von der Ankunft der Juden in Palästina – mit Holz-Containern. Im Kibbuz dienten sie als erste Unterkunft.

Die hierzulande an Landwirtschaftskollektiven Interessierten ziehen gerne erst einmal in Wohn- oder Bauwagen. Die EU fördert inzwischen solche Agrarkooperativen. Und so steht denn auch diese Erinnerungsveranstaltung auf dem Gut Neuendorf durchaus in einem Spannungsverhältnis zu dem, was gerade auf dem Land passiert.

■ Bis 20. September, Gutshof in Neuendorf im Sande, jeweils Sa./So. 12–18 Uhr