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Archiv-Artikel

Verhängnisvolle Löcher

Weil er als Demo-Leiter einen Protestierer nicht am Fluchen gehindert hat, läuft gegen den Chef der niedersächsischen Flüchtlingshilfe ein Strafverfahren. Vorwurf: Gefährdung der öffentlichen Ordnung

Böse Worte gefährden Hildesheimsinnere Sicherheit

von Reimar Paul

Wenn der Stadionsprecher am Samstagnachmittag kurz vor Spielbeginn die Aufstellung der Gästemannschaft verliest, schallt es in der Fankurve laut aus tausenden Kehlen: „Arschloch!“ Auch die Schiedsrichter werden bei vermeintlich falschen Pfiffen mit diesem oder härteren Schimpfworten bedacht.

Nun gut – schön ist das wirklich nicht. Aber wären derartige „Arschloch-Rufe“ tatsächlich ein Anschlag auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung? Und müsste deshalb die Polizei gegen die Vereinsverantwortlichen ermitteln? „Logisch wäre das schon“, findet Kai Weber, der Geschäftsführer des niedersächsischen Flüchtlingsrates. Aber er schüttelt gleichzeitig den Kopf. Denn gegen ihn läuft zurzeit ein Strafverfahren. Vorgeworfen wird ihm, dass er als Leiter einer angemeldeten Demonstration „Arschloch“-Zwischenrufe nicht verhindert habe. Die jetzt bekannt gewordene polizieiliche Strafanzeige wertet das als Verstoß gegen das Versammlungsgesetz.

Am 3. März hatten rund 200 Demonstranten in Hildesheim eine Rückkehr der zuvor vom Landkreis Hildesheim in die Türkei abgeschoben staatenlosen Flüchtlingsfrau Gazale Salame nach Deutschland gefordert. Bei einer Zwischenkundgebung am Hildesheimer Kreishaus, so protokollierte es die Polizei, rief ein Demonstrant in Richtung des Gebäudes mehrmals „Arschloch, rauskommen“.

Weber habe diese Rufe nicht unterbunden. „Eine Reaktion auf diese Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung war durch den Versammlungsleiter zu keiner Zeit zu erkennen“, konstatierten die Ermittler. „Nachdem die Rufe über eine Zeitspanne von etwa zehn Sekunden andauerten, verstummten diese“.

Aber damit nicht genug. Versammlungsleiter Weber schritt nach Darstellung der Polizei auch später nicht gegen Demonstrationsteilnehmer ein, die sich während der rund 30 Minuten dauernden Abschlusskundgebung auf dem Podest und der Treppe vor einer Innenstadtkirche aufhielten. Dabei hatte die Stadt Hildesheim zuvor ausdrücklich verboten, das Kirchen-Podest und die Stufen für die Kundgebung zu nutzen.

Weber stand bei der Kundgebung nur etwa drei Meter von der Treppe entfernt, beobachteten die Ordnungshüter. „Die örtliche Nähe und die zeitliche Dauer lassen den Schluss, dieses Geschehen nicht wahrgenommen zu haben, als nicht wahrscheinlich erscheinen“. Um die Vorwürfe zu untermauern, fügte die Polizei der Strafanzeige 15 Fotos und Video-Ausdrucke sowie einen „Video-Verlaufsbericht“ beigefügt.

Weber kritisierte im Gespräch mit der taz, dass die Polizei bei der Demonstration in Hildesheim alle Kundgebungsteilnehmer gefilmt und die Namen von Flugblattverteilern registriert habe. „Da wurde ein Aufstand betrieben, als hätten wir uns die Befreiung aller politischen Gefangenen und den Sturm auf die Gefängnisse auf die Fahnen geschrieben.“

Diese Einschätzung teilten offenbar auch die Behörden. Sie ließen während der Demo das Kreishaus verrammeln, „um zu verhindern, dass aufgebrachte Demonstrationsteilnehmer das Gebäude betreten und dort die Demonstration fortsetzen“. Deren Anlass: Die 24 Jahre alte Gazale Salame war im Februar mit ihrer einjährigen Tochter aus Algermissen im Kreis Hildesheim abgeschoben worden. Die Behörden hatten dies mit einer „Täuschung“ begründet. Die Familie der betroffenen Frau habe 1988 „unter falschem Namen und einer erfundenen Legende“ in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Salame sei in Wirklichkeit Türkin. Unterstützern zufolge floh sie als Siebenjährige mit ihren Eltern aus dem Libanon über Syrien und die Türkei nach Deutschland. Die Familie stamme von der Arabisch sprechenden, mit den Kurden verwandten Minderheit der Mahalmi ab, die früher im Südosten der Türkei lebte und vor mehreren Generationen von dort in den Libanon auswanderte. In der Türkei soll es Gazale Salame, die im sechsten Monat schwanger ist, gesundheitlich sehr schlecht gehen.