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Archiv-Artikel

Prima Freaks

Rot-Grün, wir danken dir (1): Hängt man nicht an dieser Regierung wie an einem wunderlich gewordenen Onkel, den man mal richtig toll fand?

Am Sonntagabend rief ein Freund an und fragte, wie’s denn ausgegangen sei. Ich schaltete den Fernseher an und erzählte ihm die Ergebnisse. Er war ganz schockiert. Nun würde es wieder den Randgruppen an den Kragen gehen. Keine Ahnung. Ich hatte ganz vergessen zu gucken.

Früher hatte das ja etwas enorm Wichtiges. Als Strauß beispielsweise Bundeskanzler werden wollte, hatte man als Teenager den Eindruck, die Nazis drohten an die Macht zu kommen, und beteiligte sich lebhaft in der Schule an politischen Diskussionen, um dies zu verhindern, obgleich man noch gar nicht wählen durfte.

Und als die Grünen als Alternative und Bunte Listen begannen, als gleichzeitig das Ende der Welt quasi in Reichweite zu sein schien, identifizierte man sich sehr, vielleicht auch weil die eigenen Eltern den Krieg noch mit sich herumschleppten. Die Anfangsgrünen waren prima Freaks, die mutig in bunten Wollsachen am Marktplatz standen, als gegenkulturelle Repräsentanten sozusagen.

Man las die Graswurzelrevolution und die taz und wusste Bescheid. Außerdem dachte man jahrelang, irgendetwas Grundsätzliches würde sich verändern, kämen die Grünen erst einmal an die Macht. Die Vorstellung einer wünschenswerten, solidarischen, freundlichen Gesellschaft lag irgendwie zwischen Tolkiens Auenland und Aldous Huxleys utopischem Roman „Eiland“. Bei Wahlen traf man sich mit Freunden, schaute richtig engagiert zu und war tatsächlich supertraurig, wenn’s mal wieder nicht gereicht hatte.

Die Vorstellung, etwas Entscheidendes würde sich verändern, wenn es eine andere Regierung gäbe, verbrauchte sich dann schon in der Kohl-Ära. Die erste Hälfte der Neunzigerjahre war in Berlin ja super, trotz Kohl. Und man denkt seitdem: Der Einfluss der großen Politik auf das Leben des Einzelnen wird überschätzt. Auch wenn die Parteien im Wahlkampf natürlich den Teufel an die Wand malen müssen und so tun, als ginge es um Leben und Tod.

Man kommt sich selbst schon vor wie so ein behämmerter Leitartikler, wenn man darauf antwortet, was von sieben Jahren Rot-Grün so bliebe: kleine zivilisatorische Fortschritte vielleicht, hoffentlich, in einem äußerst problematischen, immer noch gestörten Land. Gedenkpolitik, Holocaustdenkmal, Homoehe und Teile der Drogenpolitik. Komischerweise findet man es auch als Kettenraucher eigentlich ganz gut, dass Zigaretten als Droge hinaufgestuft wurden und Cannabis etwas heruntergestuft. Man denkt zwar nicht daran, mit dem Rauchen aufzuhören, aber raucht doch inzwischen häufiger am Fenster und denkt dabei an diese Regierung, der man irgendwie so nahe steht wie einem im Älterwerden etwas wunderlich gewordenen Onkel, den man als Kind mal toll fand.

Einige wird man eine Weile noch immer klasse finden: Eichel zum Beispiel, Ströbele natürlich, die netten Ministerinnen und Schröders Bruder. Stoiber und Angela Merkel dagegen sind doof! Was für einen als Journalisten perverserweise aber auch wieder ganz inspirierend sein kann. DETLEF KUHLBRODT