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Archiv-Artikel

Wann, wenn nicht jetzt

Kann es eine sozialdemokratische Partei links von der SPD geben? Die Sehnsucht danach ist nicht neu. Das jetzt von Oskar Lafontaine angestrebte Linksbündnis hat erstmals Erfolgschancen

VON CHRISTIAN SEMLER

Seit sich im Verlauf des ersten Weltkriegs Teile der sozialdemokratischen Basis wie des Funktionärskörpers gegen den Kriegskurs der SPD-Führung zusammenschlossen und die U (für Unabhängige) SPD gründeten, hat sich in jeder neuen Krise der SPD periodisch der Versuch wiederholt, eine linkssozialdemokratische Partei zu gründen.

Der erste Anlauf scheiterte zu Beginn der 20er-Jahre, weil sich das radikal gesinnte Gros der USPD der neu gegründeten KPD anschloss und die Minderheit – später – in den Schoß der Mutterpartei zurückkehrte. In der Krise der Weimarer Republik verlief der Versuch, Linkssozialisten und auf die Einheitsfront mit der SPD orientierte Kommunisten, also die „Rechten“, zu einer neuen Partei zusammenzuschließen, ebenso erfolglos. Auch dem dritten Versuch, zu Ende der 40er-Jahre im Zeichen des jugoslawischen „dritten Weges“ eine Partei jenseits von Reformismus und Stalinismus zu begründen, war kein Erfolg beschieden. So ging es auch dem bislang letzten, vierten Versuch in den 60er-Jahren, zu Zeiten der großen Koalition. All diese Versuche wurden zwischen den beiden großen traditionellen Arbeiterparteien und – nach dem Zweiten Weltkrieg – zwischen den Fronten des Kalten Krieges zerrieben.

Gemessen an dieser Geschichte des Scheiterns steht das neueste, fünfte Projekt einer linkssozialdemokratischen Parteigründung unter einem entschieden günstigeren Stern. Mit dem Ende der Sowjetunion verloren die sowjetisch orientierten Parteien ihren Anker, und der vormalige Antagonismus zwischen Sozialdemokratie und autoritärem östlichen Staatssozialismus brach mangels Kontrahenten in sich zusammen. 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist mit der Gleichsetzung zwischen PDS und der verblichenen SED selbst in konservativen Kreisen kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Die PDS gilt heute als sozialdemokratische Partei von altem Schrot und Korn, als Interessenwahrerin der Vereinigungsverlierer im Osten.

Was die SPD anbelangt, so ist der Schnitt, der durch die Schröder’schen Reformen gegenüber der Anhängerschaft der Partei bei Arbeitern wie auch bei „Zwischenschichtlern“ vollzogen wurde, so tief und dramatisch wie nie zuvor in der Parteigeschichte. Selbst wenn die SPD in der Opposition das alte sozialdemokratische Spiel wiederholen und die linke Karte ziehen würde, wäre der Erfolg ungewiss. Zu stark hat sich die Partei in ihrem Funktionärskörper und in den sie umlagernden Gremien von den Bedürfnissen derer entfernt, die in der „Zone der Prekarität“ oder der „Zone der Ausgeschlossenen“ leben müssen. Die SPD hat einfach den Grundwert der Gerechtigkeit, der sie mit dem spontanen Fühlen und Denken der „kleinen Leute“ verbindet, über Bord geworfen.

Angesichts dieser Konstellation hat die Aussicht auf eine Kombination zwischen der WASG und der PDS bei den Bundestagswahlen eine Perspektive, die weit über ein mögliches Zweckbündnis beider Vereine hinausreicht. Hierfür gibt es zwei Gründe. Der erste besteht darin, dass zwischen den Aktivisten der WASG und denen der PDS eine enge Verwandtschaft besteht – objektiv gesprochen. Im Gründungskern der WASG dominieren solide Gewerkschafter, die bunte Schar der durchs linksradikale Milieu geschädigten Wessi-Intellektuellen, die die PDS in der Vergangenheit so peinigte, gibt hier nicht den Ton an. Ideologischer Ausdruck dieser Verwandtschaft ist ein keynsianisch geprägter Staatsinterventionismus, dessen Erfolgsaussichten unsicher sind, der aber eine starke Anziehungskraft ausübt. Kalter Kaffee? Das skandinavische Beispiel lehrt, dass spätere ideologische Anreicherungen einer linkssozialdemokratischen Partei nicht auszuschließen sind. Der zweite Grund besteht in einer möglichen Doppelspitze Gysi/Lafontaine, zwei gestandenen Populisten. Ihre Ausstrahlungskraft würde weit über die primären Zielgruppen eines Bündnisses hinausreichen.

Natürlich türmen sich Schwierigkeiten auf. Juristisch wäre nach dem Wahlgesetz eine Parteineugründung vonnöten, und die Formalien sind angesichts der Zeitknappheit kaum zu bewältigen. Es bedarf auch keiner Anstrengung der Fantasie, um sich die Beharrungskräfte in der PDS (schließlich sind wir die Partei) auszumalen. Wie auch die politischen und vor allem kulturellen Vorbehalte bei der WASG angesichts der sinistren Vorfahren der PDS offensichtlich sind. Solche Vorbehalte werden sich an Vorschlägen einer „Offenen Liste“ entzünden. Aber es öffnet sich das berühmte „window of opportunity“ und schließt sich wieder. Parteigründungen brauchen diese Konjunktur, dieses Zusammenschießen objektiver Bedingungen und subjektiver Potenziale. Die nächsten Wochen entscheiden.